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Gefühle auf Kollisionskurs

Ambivalenz Gefühle auf Kollisionskurs

Stand: 26.10.2016

Emotions-Grafik | Bild: colourbox.com

Unsere Verstricktheit in innere Widersprüche ist mehr als ein kulturelles Phänomen. Als Mitgift der Evolution ist sie neurobiologisch bedingt und wurzelt tief im limbischen System. Hier, im entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, entstehen mächtige Affekte wie Angst, Trauer, Wut und Freude. Diese Erregungszustände springen schneller an als die kognitiven Prozesse des Großhirns und unterlaufen so das Radar der rationalen Analyse. Meist ist das gut so. Etwa dann, wenn die Wahl zwischen Angriff oder Flucht, also zwischen Angst und Aggression, nur den Bruchteil einer Sekunde gestattet. Problematisch wird das Nebeneinander widerstrebender Affekte allerdings, wenn sie unverarbeitet als innerer Zwiespalt stehen bleiben.

Ein neues Wort für Altbekanntes

So alt und unentrinnbar das Erlebnis kollidierender Gefühle ist, so erstaunlich neu ist der Begriff selbst. Geprägt hat ihn 1910 der Schweizer Psychologe Eugen Bleuler. Er setzte das Kunstwort "Ambivalenz" aus dem lateinischen "ambo" für "beide" und "valens" für "gelten" zusammen. Mit der Unterscheidung von "affektiver", "voluntärer" und "intellektueller" Ambivalenz beschrieb er zugleich drei Erscheinungsformen eines Phänomens, das er als Hauptmerkmal der Schizophrenie definierte.

Widersprüche prägen das Dasein

Zu den ersten, die das analytische Potenzial des neuen Begriffs erkannten, gehörte Sigmund Freud. Für ihn waren ungelöste Gefühlsambivalenzen ein maßgeblicher Auslöser seelischer Erkrankungen. Auch in der Analytischen Psychologie seines Wegbegleiters und Gegenspielers C. G. Jung spielten Ambivalenzerfahrungen eine zentrale Rolle: Jung bezeichnete die Fähigkeit, das Widersprüchliche der eigenen Persönlichkeit zu erkennen, anzunehmen und zu bejahen als wesentliches Ziel des menschlichen Reifungsprozesses. Beide Ansätze gelten noch heute: Ambivalente Regungen und Gedanken prägen unser Dasein. Sie gehören zur menschlichen Existenz. Sie sind weder vermeidbar noch an sich schädlich oder verwerflich, bergen aber ein hohes Risikopotenzial, wenn sie nicht als Normalität angenommen werden.

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Schriftzug Love and hate | Bild: colourbox.com zum Thema Ambivalenz Das innere Hin und Her

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