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Ein Gastmahl der Liebe Das Thema

Stand: 01.06.2011

Erosstatue | Bild: colourbox.com

Kleines Werk, große Wirkung

Poesie oder Philosophie oder gar die Abwesenheit von Philosophie, weil eine Überprüfung der Gedanken auf Schlüssigkeit nicht stattfindet? Oder gleichermaßen Dichtung wie Denkschrift, weil beide auf das Göttliche zielen und durch göttliche Mitwirkung überhaupt erst entstehen können? So schlicht die Szenerie und auch einige der Sentenzen in Platons "Symposion" auf den ersten Blick wirken, so vielfältig sind bei genauerem Hinsehen die Deutungsmöglichkeiten. Auch 2400 Jahre nach seiner Entstehung fasziniert das schmale Werk und regt Debatten über seinen Gehalt und seine Gestaltung gleichermaßen an. Von der Verwirrung, die der Eros damals wie heute unter den Menschen anrichtet, ganz zu schweigen.

Das Gastmahl und seine Gäste

Agathon heißt der Gastgeber des Gelages und der Anlass seiner Feier ist ein frisch verliehener Dichterpreis. Weil einige der geladenen Herren das Ereignis bereits am Tag zuvor begossen haben, einigt man sich zunächst auf den maßvollen Genuss von Wein – und auf ein einheitliches und zugleich unerschöpfliches Gesprächsthema. Eros, der Gott der Liebe und die Verkörperung der sexuellen Lust, beschäftigt die Redner, es geht um sein Wesen, seine Kraft und um das, was er zwischen Menschen und darüber hinaus bewirkt. Auch wenn die Handlung wenig Raum einnimmt, gibt es eine durchkomponierte Übereinstimmung zwischen äußerem Geschehen und Gesprächsinhalt.

Den Anfang der Gesprächsrunde macht Phaidros. So leidenschaftlich wie es nur dem jüngsten Teilnehmer des Gelages vorhalten sein kann, preist er Eros als höchste Göttlichkeit, für die sich zu sterben lohnt. Pausanias, der zweite Redner, schränkt den Begriff der körperlichen Liebe ein: nur zwischen Männern ist die verfeinerte Form der Liebe möglich, losgelöst von den instinktiven und auf Fortpflanzung bedachten heterosexuellen Trieben. Der Arzt Eryximachos verschärft als Naturwissenschaftler die Gegensätze – die ganze Natur sei definiert und durchdrungen von einander widersprechenden Prinzipen. Diese Trennung greift Aristophanes auf: Der spöttische Komödiendichter beschreibt den Eros als die Kraftanstrengung, der in ein weibliches und ein männliches Prinzip getrennten Menschen sich wieder zu einem Ganzen zu vereinen, im Liebesakt. Nach diesem schon durch die Person des Aristophanes sehr geerdeten Beitrag, kommt die Reihe an Agathon, den "Guten". Sein flammendes Bekenntnis zu dem jungen, schönen und zugleich weisen und tapferen Gott Eros ist das Stichwort für Sokrates' Einsatz.

Sokrates spricht

Die Sonne, um die die plaudernden Planeten während des "Symposions" kreisen, ist unumstritten Sokrates. Sein Auftritt erscheint zunächst wirr: Sokrates gesellt sich erst später zur Festgesellschaft, weil er einen Gedanken in aller Stille zu Ende denken will, stattdessen schickt er einen Bekannten allein vor – der zunächst glaubt, gar nicht eingeladen zu sein. Erst als die Mahlzeit fast beendet ist, legt sich Sokrates dazu und lauscht den Gesprächsbeiträgen. Als die Reihe an ihn kommt, ziert sich der berühmte Philosoph, weil sein Vorredner Agathon mit seinem Beitrag so viel Beifall geerntet hat. Nachdem er aber zum Reden überredet ist, gibt er dem Gespräch den philosophischen Tiefgang. Er stellt die Überlegung voran, dass sich die Liebe, also auch der Eros, immer auf etwas beziehen müsse. Begehren richte sich aber nur auf das, was fehlt – das Gute und Schöne: ergo sei der Eros weder als gut noch schön zu bezeichnen.

Nach diesen Vorbemerkungen wechselt Platon die Erzählperspektive. So wie es sonst Sokrates' Gewohnheit ist, führt diesmal die "Hohepriesterin" Diotima den Dialog. Die Rolle der Diotima erlaubt verschiedene Deutungen. Der bescheidene Sokrates tritt hinter seine "Priesterin" zurück und legt ihr die Erkenntnisse über die Wahrheit in den Mund. Er, Sokrates, nimmt die Position des Schülers und Stichwortgebers ein – und führt dadurch die Gesprächssituation mit Agathon in vertauschten Rollen fort. Je länger das Gespräch und die Bemühungen um das Wesen der Liebe dauern, werden zwei weitere Grundzüge greifbar: Der Mensch, der fragend und debattierend auf der Suche nach Erkenntnis ist, wird getrieben von dieser Lust auf Erkenntnis.
Ein letzter dramaturgischer Kunstgriff ist der Auftritt des angetrunkenen Alkibiades. Auch wenn sein Beitrag ins Peinliche zu kippen droht, bestätigt der junge Mann doch ohne es zu wissen, dass Sokrates die gerade ausgeführten moralischen Grundsätze tatsächlich lebt. Und Alkibiades gibt durch sein Verhalten eine Warnung ab: vor Unmäßigkeit, Übertreibung, Eifersucht.

Die Liebe als Aufzug

Wie die Stufen einer Leiter baut die Rede Sokrates-Diotimas auf den Anregungen der Gastmahlgäste auf. So findet der Gedanke Pausanias' vom "irdischen" Eros Niederschlag in Diotimas Ansatz, dass die Liebe mit der Hingezogenheit zu einem schönen Körper beginne. Den Einwand von Eryximachos, Eros sei die wirkende Kraft in Natur und Kunst, greift die Priesterin auf, wenn sie von der Macht spricht, die in dem Begehren nach dem geliebten Menschen steckt. Auf das Kugelgleichnis des Aristophanes und die darin beschriebene Unvollkommenheit des Menschen nimmt Diotima Bezug, indem sie Eros als Kind von Armut und Reichtum darstellt. Eine Deutung, die auf den Ursprung der Philosophie übertragen werden kann: als Bewegung zwischen Unwissenheit und Weisheit, als Mittlerin zwischen Mensch und Göttern.

Agathon schließlich stellt den Zusammenhang von Eros und Schönheit her – ein Gedanke, der zum Zentrum von Diotimas Dialog wird. Luciano de Crescenzo beschreibt es so: "Schlichter ausgedrückt ist die Liebe für Platon so eine Art Aufzug, mit dem man im ersten Stockwerk die körperliche Liebe erreicht, im zweiten die geistige, im dritten die Kunst und dann, je höher man kommt, die Gerechtigkeit, die Wissenschaft und die wahren Erkenntnis, bis man schließlich in den Dachstock kommt, wo das Gute wohnt."

Die Schönheit der Gedanken

Die Annahme, bei "platonischer Liebe" handele es sich um etwas Nicht-Körperliches, ist also grundlegend falsch, weil sie auf der Grundlage des Triebs weit über das Sexuelle hinausgeht. Eros und Verlangen des Philosophen sind auf die Erkenntnis gerichtet, auf den "dauernden Besitz des Guten", so formuliert es Diotima. Und so wie sich in Aristophanes' Kugelgleichnis der unvollständige Mensch immer nach Komplettierung sehnt und der liebende Mensch nach Erfüllung – so sucht der Philosoph lebenslang nach Weisheit, nach Auf-Füllung seines geistigen Defizits. Der Weg führt über die Wahrnehmung des Schönen in seinen vielfältigen Erscheinungsformen bis zur Erkenntnis des Schönen als innewohnendes Prinzip. Die Kraft, diesen Weg zu beschreiten, spendet Eros. Er hält die Liebe wach zwischen Menschen und hilft ihnen in ihrem Bemühen über sich hinaus zu wachsen. Eine Energie, die auch Künstler beflügelt und uns unermüdlich die ewige Frage nach dem Sinn stellen lässt.

Eine letzte große Parallele zwischen Werk und Wirkung konnte Platon gar nicht absehen: So ist das "Symposion", das knapp 20 Jahre nach Sokrates' Gifttod entstand, eine Liebeserklärung an den Lehrer ganz im Sinne der dort aufgestellten Thesen. Denn das Werk ist nach menschlichen Begriffen unsterblich, eine über Jahrhunderte gültige "Zeugung im Schönen" und ein Dokument der Freundschaft.


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