Bayern 2 - radioWissen


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Die Poesie heilt alle Wunden

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Henrike Leonhardt

Stand: 11.02.2015 | Archiv

Deutsch und LiteraturMS, RS, Gy

Nur Weicheier, Schwärmer, Träumer und Fantasten? Von wegen! Die Frühromantiker sind die "Jungen Wilden" um 1800. Sie legen sich mit Goethe an, lachen sich krumm über Schillers "Glocke", pfeifen auf Konventionen und werfen sämtliche Regeln über den Haufen.

Sie wollen eine neue Literatur und ein anderes Leben: Ein Leben ohne Schubladen, ohne künstliche Trennungen, voller Poesie und unbegrenzter Möglichkeiten. Die Frühromantik, wie sie der Jenaer Kreis um die Gebrüder Schlegel, Schelling, Tieck und Novalis zwischen 1797 und 1801 entwickelt, ist alles andere als eine blau grundierte Blümchentapete. Sie ist hoch intellektuelles, experimentelles Projekt, das die Kunst nicht länger als Werkzeug der sittlichen Menschenerziehung, sondern als Zustand absoluter persönlicher Freiheit definiert.

Gedanklich sind Schelling, Schlegel, Novalis & Co. ihrer Zeit voraus. Sie gründen ihre Theorien auf neuste naturwissenschaftliche Erkenntnisse, bauen Physik, Chemie, Mathematik, Magnetismus und Elektrizität in ihre Überlegungen ein und philosophieren, was das Zeug hält.

Was die Romantiker auch 200 Jahre später noch spannend und lesenswert macht, ist ihre größte Entdeckung: das Ich. "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg" schreibt Novalis und macht ernst mit diesem Vorsatz. In seinen Romanfragmenten "Die Lehrlinge zu Sais" und dem "Heinrich von Ofterdingen" steigt er hinab in die Tiefen des Selbst. Was er dort findet, ist der zeitlose Stoff, aus dem wir alle gemacht sind: Träume, Wünsche, Ängste, vor allem aber die Sehnsucht nach Liebe, Verbundenheit und persönlicher Erfüllung. Hier, in diesem inneren Bergwerk, heilt die Poesie alle Wunden.

Die Lektüre romantischer Texte, vor allem aber die Lektüre der beiden von Novalis hinterlassenen Romanfragmente "Die Lehrlinge zu Sais" und "Heinrich von Ofterdingen" stellt den Leser vor immense Herausforderungen. Auf eingängige Gefühligkeit oder süffige Schwärmerei lässt sich die Romantik jedenfalls nicht reduzieren. Sie ist sperrig, befremdlich, hoch reflektiert und in ihrer Struktur, Bildlichkeit, Thematik und Intentionalität so unmittelbar mit den philosophischen Strömungen ihrer Entstehungszeit verbunden, dass sie ohne Grundkenntnisse dieses Bezugsrahmens unverständlich bleibt.


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