Bayern 2 - radioTexte

"In die Anstalt" - Thomas Mann und Frank Wedekind

Thomas Mann im O-Ton "In die Anstalt" - Thomas Mann und Frank Wedekind

Stand: 16.12.2016

In einem fast vergessenen O-Ton spricht der Nobelpreisträger über Frank Wedekinds Stück "Der Marquis von Keith" - in den radioTexten am Dienstag | Bild: picture-alliance/dpa / Montage: Christian Pfefferle

Ein Schatz des BR-Archivs wird feierlich gehoben: Thomas Mann spricht über Frank Wedekinds Theaterstück "Der Marquis von Keith". Bayern 2 präsentierte die wiederentdeckte Originaltonaufnahme am 15. Dezember im Münchner Funkhaus. Dazu diskutierten Antonio Pellegrino von Bayern2 mit Dirk Heißerer (Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums) und Anatol Regnier, der Enkel Frank Wedekinds über die Hintergründe des Funds. Mit szenischen Lesungen und Liedern Frank Wedekinds, gesungen und gespielt von Anatl Regnier: alles im Live-Mitschnitt in den radioTexten am Dienstag!

"In die Anstalt" am 15. Dezember im Funkhaus des BR: Anatol Regnier (links), Antonio Pellegrino (BR) und Thomas-Mann-Experte Dirk Heißerer

"Nichts hat mich getroffen wie sie", schrieb Thomas Mann 1914 in einem Essay zu Frank Wedekinds 50. Geburtstag über diese eine Szene des fünften Aufzugs in Wedekinds Stück "Der Marquis von Keith" - nur einmal hatte er das Werk auf der Bühne des Münchner Schauspielhauses gesehen mit Frank Wedekind höchstselbst in der Hauptrolle des Marquis von Keith, doch sie wurde "seine Szene". 40 Jahre später hat der inzwischen als Nobelpreisträger ausgezeichnete Schriftsteller noch einmal diesen Essay hervorgeholt, diesmal um an den 1918 verstorbenen Dichter zu erinnern, und ihn, leicht modifiziert, für den Bayerischen Rundfunk einzusprechen - jedoch nicht im Studio, sondern bei sich zuhause, inklusive Hundegebell. Erst kürzlich hat Anatol Regnier, Wedekind-Enkel und -Biograf, im Archiv des Bayerischen Rundfunks diese 1954 von Thomas Mann eingesprochene Würdigung Wedekinds in seiner vollen Länge von knapp zwanzig Minuten entdeckt.

"Die Aufnahme in der Langfassung inklusive Unterbrechung des Vortrags durch den Schäferhund von Thomas Mann kannten wir so noch nicht. Ein hervorragend erhaltenes, hochinteressantes Fundstück!"

Dirk Heißerer, Leiter des Thomas-Mann-Forums

Für das Fundstück "in die Anstalt"

Anatol Regnier (Wedekindenkel und -Biograf) musizierte auf der Bühne des BR-Funkhauses bei der Veranstaltung "In die Anstalt" am 15. Dezember.

Solche Fundstücke müssen gefeiert werden: Antonio Pellegrino (Bayern 2, Redaktion radioTexte) und Dirk Heißerer hatten dazu im Rahmen einer Veranstaltung unter dem Motto "In die Anstalt" am 15. Dezember um 20:00 Uhr ins Funkhaus geladen. Über 200 Gäste kamen "in die Anstalt", um Thomas Manns Essay endlich in voller Länge zu hören, der lebhaften Diskussion zwischen Dirk Heißerer und Anatol Wedekind beizuwohnen sowie die Lesungen zweier entscheidender Szenen des Wedekind-Stücks, aufgeführt von Christian Löber als Moralist Ernst Scholz und Max Wagner als Keith, mitzuerleben.

Thomas Mann entdeckt "Der Marquis von Keith"

"Der Marquis von Keith": Geschrieben, inszeniert und gespielt von Frank Wedekind.

1911 inszenierte Frank Wedekind selbst sein Stück "Der Marquis von Keith" im Münchner Schauspielhaus und spielte auch höchstpersönlich darin die Titelrolle: den permanent klammen Lebemann von Keith. Der wird im fünften Akt gegen Ende des Stücks von seinem Gegenspieler Ernst Scholz dazu aufgefordert, sich mit ihm zusammen in eine "Privatheilanstalt" zu begeben - ein Ansinnen, das den Marquis schließlich komplett aus der Fassung bringt. Thomas Mann zeigt sich in seinem Essay tief beeindruckt von "seiner Szene", einem beißenden Dialog, der das Ringen zweier Männer in "bürgerlicher Kleidung" darstellt, ein Ringen zwischen Moral und Verfall, Wahnsinn und Vernunft.

Aus dem 5. Aufzug des "Marquis von Keith" von Frank Wedekind

von Keith

"Gib mir die dreißigtausend Mark, dann komme ich mit!"

Scholz

"Wenn du mich begleitest, brauchst du kein Geld mehr. Du findest ein behaglicheres Heim, als du es vielleicht jemals gekannt hast. Wir halten uns Wagen und Pferde, wir spielen Billard..."

von Keith

(ihn umklammernd) "Gib mir die dreißigtausend Mark!! Willst du, daß ich hier vor dir einen Fußfall tue? Ich kann hier vom Platz weg verhaftet werden!"

Scholz

"Dann bist du schon so weit?!" (Ihn zurückstoßend) "Ich gebe solche Summen keinem Wahnsinnigen!"

von Keith

(schreit) "Du bist der Wahnsinnige!"

Scholz

(ruhig) "Ich bin zu Verstand gekommen."

von Keith

(höhnisch) "Wenn du dich in die Irrenanstalt aufnehmen lassen willst, weil du zu Verstand gekommen bist, dann geh hinein!"

Scholz

"Du gehörst zu denen, die man mit Gewalt hineinbringen muß!"

von Keith

"Dann wirst du in der Irrenanstalt wohl auch deinen Adelstitel wieder aufnehmen?"

Scholz

"Hast du nicht in zwei Weltteilen jeden erdenklichen Bankrott gemacht, der im bürgerlichen Leben überhaupt möglich ist?!"

von Keith

"Wenn du es für deine moralische Pflicht hältst, die Welt von deiner überflüssigen Existenz zu befreien, dann findest du radikalere Mittel als Spazierenfahren und Billardspielen! [....]"

Scholz

(bittend) "Komm mit mir, dann bist du geborgen. Wir sind zusammen aufgewachsen; ich sehe nicht ein, warum wir nicht auch das Ende gemeinsam erwarten sollen. Die bürgerliche Gesellschaft urteilt dich als Verbrecher ab und unterwirft dich allen unmenschlichen mittelalterlichen Martern..."

von Keith

(jammernd) "Wenn du mir nicht helfen willst, dann geh, ich bitte dich darum!"

Scholz

(Tränen in den Augen) "Wende deiner einzigen Zuflucht nicht den Rücken! Ich weiß doch, daß du dir dein jammervolles Los ebensowenig selber gewählt hast wie ich mir das meinige."

von Keith

"Geh! Geh!"

Scholz

"Komm, komm. – Du hast einen lammfrommen Gesellschafter an mir. Es wäre ein matter Lichtschimmer in meiner Lebensnacht, wenn ich meinen Jugendgespielen seinem grauenvollen Verhängnis entrissen wüßte."

von Keith

"Geh! Ich bitte dich!"

Der Einbruch des Ungeheuren

Das Zimmer ist nichtssagend, die beiden jungen Herren - der vermeintliche Aristokrat von Keith und der gescheiterte Moralapostel Ernst Scholz - treten ganz bürgerlich und gediegen auf. Allein in ihren Worten tut sich der Abgrund ihrer Existenz auf.

Mit Frank Wedekind in der Hauptrolle | Bild: Lebrecht Music & Arts 2 / Lebrecht

"Der Marquis von Keith" - mit Frank Wedekind in der Hauptrolle

Der Moralist Scholz, der durch seine exzessive Gewissenhaftigkeit viele Mitmenschen ins Unglück gestoßen hat, erscheint dem Schwindler und Hochstapler von Keith hier als Teufel in Person. Als ein Dämon, der ihm Schlimmstes - mittelalterliche Folter - prophezeit und ihn in Versuchung bringt, und den er voller Angst verscheuchen will: "Geh, geh", fleht von Keith ohnmächtig. Obwohl er nicht weiß, wie es ohne Scholz' Geld mit ihm weitergehen soll, will er partout nicht aufgeben, will die Gesellschaft der Reichen, in der die beiden nicht reüssieren konnten, nicht hinter sich lassen. Blanke Verzweiflung.

"Wedekind hat Größeres, Grasseres [sic!], äußerlich Kühneres entworfen, das ist sicher. Aber in meinen Augen ist die letzte Szene zwischen Scholz und Keith das Schrecklichste, Rührendste und Tiefste, was dieser tiefe gequälte Mensch geschrieben hat."

Thomas Mann in Eine Szene von Wedekind

Frank Wedekind vom Maggie-Texter zum Stardramatiker

Frank Wedekind

"... dieser tiefe gequälte Mensch"? Frank Wedekind musste sich mit seiner Leidenschaft zu dichten schon früh auf die eigenen Beine stellen. Obwohl 1864 in ein wohlhabendes Haus in Hannover hineingeboren - sein Vater war Arzt und amerikanischer Staatsbürger - unterstützte der Vater seine literarischen Ambitionen nicht. Als er das vom Vater gewünschte Jurastudium mit 22 Jahren abbrach, kam es zum Bruch, und Wedekind musste sich selbst durchschlagen - unter anderem als Werbetexter für Maggi. Auch als Wedekind nach München zog, viele Kontakte knüpfte, seine erste Tragödie "Frühlings Erwachen" (1891) herausbrachte und 1896 die Satirezeitschrift "Der Simplizissimus" gründete, wurde seine finanzielle Situation nicht besser. Er bestritt seinen Lebensunterhalt und den seiner Kinder und wechselnden Frauen meist als Kabarettist und Schauspieler eigener Stücke. Erst als Max Reinhardt ihn entdeckte und 1906 in Berlin "Frühlings Erwachen" uraufführte, wendete sich das Blatt: Frank Wedekind wurde zum meistgespielten Dramatiker seiner Zeit. Obwohl Reinhardt in Berlin wiederholt ganze Zyklen von ihm aufführte, wurden Wedekinds Satiren und Stücke immer wieder zensiert und verboten.

Thomas Mann, der Zauberer

Dem 1875 in Lübeck geborenen Kaufmanns-Sohn Thomas Mann erging es in puncto Schriftstellerkarriere bekanntlich viel besser: Schon seine erste Veröffentlichung, die Novelle "Gefallen", verschaffte dem 19-Jährigen so viel Anerkennung und Selbstbewusstsein, dass er beschloss, seinen Versicherungsjob aufzugeben und - wie sein Bruder Heinrich, mit dem er anfangs dies und das gemeinsam publizierte, - Schriftsteller zu werden. Thomas Mann lernte Frank Wedekind in München kennen - 1898 bis 1900 arbeitete er beim Simplizissimus.

Thomas Mann schweigt und genießt.

Als dann 1901 die "Buddenbrooks" erschienen, der Familienroman, der gleich überall auf begeistertes Echo stieß, konnte Thomas Mann auf derlei Jobs leicht verzichten. Auch im Privaten lief bei Thomas Mann - wenigstens nach außen hin - alles viel erfolgreicher, ruhiger und stetiger als bei Wedekind: Er bekam sechs Kinder von seiner Ehefrau Katia Pringsheim und selbst in der Emigration in den USA blieb er ein allseits gefeierter Universitätlehrer, erfolgreicher Schriftsteller und höchst gefragte Zeitgenosse, der 1938 schon bei seiner Ankunft in den Staaten prophezeite: "Where I am, there is Germany". All das hinderte den Zauberer nicht daran, sich den harten Realitäten des Daseins zu stellen und Menschen, die von ihnen gebeutelt waren, zu bewundern - eine Bewunderung, die auch in seinem Wedekind-Aufsatz deutlich zum Ausdruck kommt: "Ich sah das Stück in München im 'Schauspielhaus' mit Wedekind in der Titelrolle. Man kennt sein Spiel, das nicht Kunst, nicht Schauspielerei, sondern eine beklemmende Wirklichkeit ist, atemlos, linkisch, schamhaft-emphatisch und erschütternd lächerlich, wie seine Seele."

"In die Anstalt" - Mitschnitt des Thomas-Mann-Abends im Funkhaus in den radioTexten

Max Wagner und Christian Löber spielten die Lieblingsszenen Thomas Manns aus Wedekinds Stück während der Veranstaltung "In die Anstalt".

Nach über 60 Jahren bringt Bayern 2 die vor kurzem in den Archiven des BR wiederentdeckte Originaltonaufnahme des Literaturnobelpreisträgers erstmals in voller Länge zu Gehör: Kundig, einfühlsam und doch mit großer Emphase spricht Thomas Mann über die letzte Szene des Stücks und über Wedekinds eigentümliches Künstlertum zwischen Schein und Sein.

Nach der Einspielung der 20-minütigen Aufnahme erläutern Dirk Heißerer und Literaturredakteur Antonio Pellegrino die Hintergründe der nicht ganz spannungsfreien Beziehung zwischen Thomas Mann und Frank Wedekind. Anatol Regnier wird den Abend musikalisch mit Liedern seines Großvaters Frank Wedekind begleiten. Lesungen aus dem Stück "Der Marquis von Keith": Christian Löber und Max Wagner.

Der Live-Mitschnitt der Veranstaltung vom 15. Dezember im Studio 1 des BR: Am Dienstag, 20. Dezember 2016, 21:05 Uhr in den radioTexten auf Bayern 2

Die Sendung ist vier Wochen lang als kostenloser Podcast, Stream und in der Bayern2 App verfügbar.

Das war unser letzter radioTexte-Dienstag in diesem Jahr.

Wir wünschen Ihnen besinnliche Festtage und freuen uns, wenn wir uns am 10. Januar 2017, zur ersten Sendung im Neuen Jahr, wiederhören!