Bayern 2 - radioTexte


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Navid Kermani Staunen über das Christentum

Deutschlands bekanntester Orientalist staunt über christliche Kunst. In seiner Essay-Sammlung "Ungläubiges Staunen" schildert der muslimische Schriftsteller Navid Kermani seine wunderbar sinnlichen Eindrücke von Gemälden, Skulpturen und Mosaiken in katholischen Kirchen zwischen Köln und Rom. Lesung mit Thomas Loibl

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 16.12.2019 | Archiv


Eins der Kunstwerke, die Kermani staunend betrachtet in seinem Buch über das Christentum:
“Der Abschied Christi von seiner Mutter”, um 1585/90, von El Greco, eigentl. Domenikos Theotokopoulos; 1541–1614.
Öl auf Leinwand, 128 × 84 cm. Toledo, Museo de Santa Cruz. | Bild: picture-alliance/dpa/akg images / Andre Held

"Ich habe mich in Kirchen immer wohlgefühlt, sogar mit Laptop: Niemals waren Blicke skeptisch, obwohl ich mich nicht bekreuzige, nicht die Knie beuge oder zum Abendmahl vor den Priester trete... Ich habe keine Ahnung, was es ist, dass selbst die Deutschen den Fremden freundlich betrachten, sobald sie in der Messe sitzen. Großvater wird das Gleiche gespürt haben, sonst hätte er auf seiner Europareise 1963 den Gebetsteppich nicht in Kirchen ausgebreitet."

(Ungläubiges Staunen von Navid Kermani)

Zunächst hat sich Navid Kermani mit der Religion seiner iranischen Familie beschäftigt: Der 1967 im protestantisch geprägten Siegen geborene muslimische Intellektuelle und Islamwissenschaftler schrieb seine Dissertation über "Das ästhetische Erleben des Koran". In seinen späteren Publikationen nutzte er seine tiefgreifende Kenntnis beider Kulturkreise, kreiert bis heute immer neue, faszinierende west-östliche Begegnungen, macht auf spannende Gemeinsamkeiten von Orient und Okzident aufmerksam, meldet sich politisch und literarisch zu Wort als leidenschaftlicher Vermittler zwischen "Koran und Kafka" (Beck Verlag, 2014).

In seinem Buch "Ungläubiges Staunen" nähert sich er nunmehr auf fast schwärmerische Weise dem christlichen Glauben an. In autobiografisch geprägten Essays, die seit Kermanis einjährigem Aufenthalt in Rom als Stipendiat der Villa Massimo im Jahr 2008 entstanden sind.

Religion als sinnliches Erlebnis

Sein Ich-Erzähler flaniert mit Laptop und Rucksack durch Italiens Hauptstadt mit ihren "unerhört" vielen Kirchen und lässt uns teilhaben an seiner sinnlichen Erfahrung christlicher Kunst. Er staunt über Werke Caravaggios, Guido Renis, Leonardos, Veroneses oder El Grecos. Er verliebt sich in den Blick Marias, nimmt an einer katholischen Messe in der Santissima Trinità dei Monti teil, vergleicht diverse Darstellungen Jesu, entfaltet kulturgeschichtliche, religiöse Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen Islam und dem Christentum.

"Der Koran bestätigt ja nicht nur allgemein die biblischen Religionen; er steht im besonderen dem Christentum nahe, nennt Jesus ausdrücklich den masīḥ, den Christus also, bejaht bis hin zur jungfräulichen Geburt alle Wunder und lobt in geradezu zärtlichen Worten die Frömmigkeit der Christen."

(Ungläubiges Staunen, Navid Kermani)

Durch das naive Staunen, den Wechsel zwischen Alltagserlebnissen, persönlichen Gedanken, religionsgeschichtlicher Spurensuche und ästhetischer Entdeckung überträgt sich die Neugier auf die Leserschaft, auch und vielleicht im Besonderen auf die Christen: Das scheinbar Vertraute füllt sich wieder mit dreidimensionalen Bildern, mit Respekt vor praller Geschichtlichkeit und vor der Tiefe früheren Wissens. Eine derartige Praxis des Glaubens, in der Religion, Ästhetik und Ethik zusammenfinden, wäre sicherlich für jede Religion ein Gewinn.

Für sein Werk und Engagement wurde Navid Kermani 2015 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der Stiftungsrat begründete seine Entscheidung so:

Romancier, Essayist, Journalist, Orientalist: Navid Kermani

"Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, in denen er Fragen der Mystik, der Ästhetik und der Theodizee insbesondere im Raum des Islam nachgeht, weisen Navid Kermani als Autor aus, der mit großer Sachkenntnis in die theologischen und gesellschaftlichen Diskurse einzugreifen vermag. Die Romane und Essays von Navid Kermani, insbesondere aber auch seine Reportagen aus Krisengebieten zeigen, wie sehr er sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet weiß, und wie sehr er sich für eine offene europäische Gesellschaft einsetzt, die Flüchtlingen Schutz bietet und der Menschlichkeit Raum gibt."

(Aus der Begründung der Jury)

"Ungläubiges Staunen. Über das Christentum" von Navid Kermani

am 17. Dezember um kurz nach 21 Uhr in den radioTexten am Dienstag auf Bayern2

Lesung mit Thomas Loibl

Lesung mit Thomas Loibl, Rahel Comtesse und Peter Weiß


Redaktion und Moderation: Antonio Pellegrino

Navid Kermanis Buch mit 49 farbigen Abbildungen ist im C.H. Beck Verlag erschienen.

Unsere Lesungen können Sie nachhören: auf dieser Seite im Stream, als Download im Podcast-Center des Bayerischen Rundfunks und überall, wo es Podcasts gibt.


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