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Ganz Ohr 60 Jahre Telefonseelsorge

Egal, ob die nächste Mieterhöhung einem Sorgen macht, die Partnerschaft bröckelt oder man mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen: Seit 60 Jahren kümmeren sich Mitarbeiter der Telefonseelsorge, um Menschen, die Hilfe suchen.

Von: Isabelle Hartmann

Stand: 20.07.2016

Die Telefonseelsorge wird 60. | Bild: dpa/Uwe Zucchi

Tausende Ehrenamtliche in ganz Deutschland versuchen Menschen zu helfen, von denen sie kaum etwas wissen. Helfen bedeutet aber nicht unbedingt beraten, sondern vor allem und zu allererst: zuhören.

"Viele suchen Wertschätzung und Respekt und dass ihnen jemanden glaubt. Dass jemand zuhört, dass jemand jede Sorge ernstnimmt. Vor Kurzem habe ich einem Neonazi zugehört und versucht zu verstehen. Und am Ende kam er ins Nachdenken."

Norbert Ellinger, Chef der Telefonseelsorge in München

1,8 Millionen Anrufe pro Jahr

Hier geht's zur Telefonseelsorge:

Telefon: 0800/1110111
0800/1110222
Weitere Infos unter:

Die erste Leitung der Telefonseelsorge wurde 1956 in Berlin eröffnet, nach englischem Vorbild. Damals hieß sie noch "Lebensmüdenberatung" und richtete sich an Suizidgefährdete. 60 Jahre später ist die Telefonseelsorge zu einer der größten Hilfsorganisation Deutschlands geworden.

Vergangenes Jahr haben rund 7.500 Ehrenamtliche etwa 1,8 Millionen Anrufe anonym empfangen. Damit ist die Telefonseelsorge die am häufigsten gewählte Beratungsnummer des Landes. Häufig müssen es die Menschen mehrmals versuchen, bis sie endlich zu einem Berater durchgestellt werden. Ist das ein Erfolg oder ein trauriger Hinweis darauf, dass es den Menschen immer schlechter geht? Norbert Ellinger sieht es positiv:

"Die Menschen trauen sich eher, das, was sie auf dem Herzen haben, mitzuteilen. Früher war es verpönt, sich anzuvertrauen. Wir leben in einer viel zu komplizierteren Welt. Warum muss ich den Anspruch haben, das allein bewältigen zu können? Ich kann und darf mir Hilfe holen."

Norbert Ellinger, Chef der Telefonseelsorge in München

Die Ratsuchenden kommen aus allen Gesellschaftsschichten, sind meistens zwischen 30 und 60 Jahren alt. Auffällig viele haben mit Depressionen oder anderen psychischen Problemen zu kämpfen. Rund 25.000 Mal wurden vergangenes Jahr auch die Chat und Emailberatung der Telefonseelsorge in Anspruch genommen. Die gibt es seit rund 20 Jahren.

1,5 Millionen unbezahlte Arbeitsstunden pro Jahr

Die Ehrenamtlichen, die sich solche Geschichten Tag für Tag hören, sind keine Therapeuten. Sie sind aber auch keine Laien. Fast ein Jahr dauert ihre Ausbildung, bevor sie am Telefon oder an der Tastatur allein gelassen werden. Eine gute Investition – denn danach leisten die 7.500 Ehrenamtliche bundesweit rund 1,5 Millionen unbezahlte Arbeitsstunden pro Jahr.

Der Telefonseelsorge fehlt es allerdings an Geld für die technische Ausrüstung und Wartung, für die Ausbildung der Ehrenamtlichen. In den vergangenen Monaten sind fast alle Bundesmittel weggefallen. Den größten Teil der Kosten tragen nun die Evangelische und die Katholische Kirche. Norbert Ellinger findet, dass Geld vom Bundesgesundheitsministerium angebracht wäre.

"Wir helfen jenen, denen sonst keiner mehr zuhört. Wenn es uns nicht gäbe, würden sie öfters zum Arzt gehen, das, was es an Gesundheits-Fürsorge gibt, in Anspruch nehmen. Das würde auch Geld kosten. Wir entlasten und komplementieren das Gesundheitssystem."

Norbert Ellinger, Chef der Telefonseelsorge in München

Derzeit feiert die Telefonseelsorge mit einem Weltkongress in Aachen ihr 60-jähriges Bestehen in Deutschland. Anlässlich des Kongresses hat die Telefonseelsorge ihre neue Broschüre "Suizidprävention – Damit das Leben weitergeht" veröffentlicht.


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