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Massive Attack TripHop aus Bristol

2015 werden es 25 Jahre, dass die erste Single von Massive Attack erschien. 1990 kam „Daydreaming“ in die Läden, gefolgt vom Debüt „Blue Lines“ 1991. „Blue Lines“ ist neben Nirvanas "Nevermind" das wohl einflussreichste Pop-Album der Dekade gewesen und gilt als der Startpunkt der TripHop-/Downbeat-Genres.

Stand: 23.12.2014 | Archiv

Massive Attack, Byblos International, Libanon, 2014 | Bild: picture-alliance / dpa

Wir erinnern wir uns an den 26. April 2014 – den Samstag, an dem der Zündfunk seinen 40. Geburtstag feierte – mit einem Live-Festival hier im Münchner Funkhaus, u.a. mit Neneh Cherry. Diese Frau kennt Massive Attack von Anfang an – als sie noch die Herren vom DJ-Kollektiv The Wild Bunch aus Bristol waren, also der Stadt des schwarzen Kulturerbes in Großbritannien.

"Massive Attack, sie sind Teil meiner Familie. Ich hatte schon immer einen starken Bezug zu Bristol. Daddy Gee kenne ich schon lange. Bristol ist nicht groß. Die Leute dort machen nicht gern Kompromisse: sie sind auf eine coole Art engstirnig und exzentrisch. Dort merkt man den Einfluss der Karibik, des Reggae - als kulturelle Kraft in England. In Bristol begann alles mit der Soundsystem-Kultur. Auch Massive Attack entstammen einem DJ-Kollektiv, sie nannten sich The Wild Bunch. Man hört ihrer Musik an, dass sie aus Bristol kommt."

Neneh Cherry

2015 werden es 25 Jahre, dass die erste Single von Massive Attack erschien. 1990 kam „Daydreaming“ in die Läden, gefolgt vom Debüt „Blue Lines“ 1991. „Blue Lines“ wurde nicht nur zur „Platte der 90er-Jahre im Zündfunk“ gekürt, sondern ist neben Nirvanas "Nevermind" das wohl einflussreichste Pop-Album der Dekade gewesen und gilt als der Startpunkt des Genres TripHop / Downbeat. Bands wie Portishead, Tricky und Morcheeba folgten und trugen die Ideen von Massive Attack in die Welt: Dub, Soul & Pop zu einer neuen Mischung zu verschmelzen. Ein Vierteljahrhundert später kennt man sie für ihr gutes Gespür für neue Stimmen und talentierte Remixer - und sie gelten als große Festival-Band.                      

„Mein produzierte die Platte und Geoff von Portishead war ihr Tea-Boy“

Massive Attack Albumcover "Daydreaming" | Bild: Circa Records

„Daydreaming“ - erschien zur Zeit der Wiedervereinigung: im Oktober 1990. Es war die erste reguläre Single von Massive Attack – der Gesang stammte von Shara Nelson und die Raps von Tricky Kid. Tricky Kid sollte später selbst bekannt werden als Tricky und Shara Nelson, die auf vier Stücken zu hören war, sie zählte zur Ur-Besetzung von Massive Attack – neben Daddy Gee, Mushroom und 3-D. Die Wurzeln des Projekts liegen im Bristol der 80er: Massive Attack entstammen dem Künstler-Kollektiv The Wild Bunch, zu dem auch Produzent Nellee Hooper gehörte – der weltberühmt wurde als Producer von Soul II Soul und Madonna. Aber nicht in Bristol, sondern in London bzw New York. Das war bei Massive Attack anders: sie wollten dort nicht fort. Ende der 80er klangen die ersten Gehversuche noch nach Disco-Rap. Die allererste Maxi von Massive Attack-Mitgliedern von 1988 hieß „Any Love“ feat Daddy Gee & Carlton (mit dem quietschigen Daisy Lady-Keyboard-Sample von „7thWonder“ von 1979). Es war schon früh zu hören: Massive Attack bauen ihre Welt aus ihren Idolen auf. Ende der 80er hatten sie schon einen Deal mit dem New Yorker Rap-Label Def Jam, aber die Zusammenarbeit verlief fruchtlos. Erst Producer Cameron McVey, der Ehemann von Neneh Cherry, brachte Massive Attack auf die Spur. Neneh über ihre Connections zur Band aus Bristol.

„Das erste Massive Attack-Mitglied, das ich kennenlernte, war Mushroom. Er begleitete mich bei Fernsehauftritten meines Hits "Buffalo Stance". Ein gutaussehender Typ, der Teil unserer verrückten Band wurde. Dann begannen sie selbst Musik zu machen: Daddy Gee, 3D und Mushroom.

Man kann durchaus sagen, dass mein Mann Cameran als Produzent die ´Blue Lines´-Platte zusammengehalten hat. Geoff von Portishead war Studioassi – er machte Tee und holte Brötchen. Ein Teil der Platte entstand nicht in Bristol, sondern im Keller unseres Hauses in London. Auf mich  hat sich das Album auch ausgewirkt: "Blue Lines" half mir bei meinem Album "Homebrew". Dadurch wurde mein Sound deeper, schwerer – er bekam die gute Melancholie.“

„Blue Lines“ - eine Platte der Samples: beim Welthit „Unfinished Sympathy“ war es der Groove von J.J. Johnsons „Parade Strut“ und ein Sprachsample vom Mahavishnu Orches. Ihr größter Hit baute auf ein Wortspiel: aus der unvollendeten Symphonie machten sie unvollendetes Mitgefühl. „Unfinished Symphony“ featuring Shara Nelson, der Sängerin, die nach dem Debüt eigene Wege ging – sie versuchte sich an einer Solo-Soul-Karriere und ihre Band suchte dann neue weibliche Stimmen. Produziert hat den Hit ein gewisser Jonny Dollar, der später den Hit von Neneh Cherry und Youssoun N´dour, „7 Sesonds“, schrieb. Den Clip, in dem die Sängerin fünf Minuten lang ohne Schnitt durch L.A. läuft, schoss Dan Kneece, Kameramann von „Blue Velvet“. „Unfinished Sympathy“ wurde Single des Jahres 1991 in diversen Magazinen, MTV2 und BBC Radio1 nannten ihn gar „best song of all time“ - später coverte ihn Tina Turner. Auf dem Plattencover der Single hieß die Band „Massive“ - England befand sich gerade im Golf-Krieg, die Plattenfirma und das Management stimmten der Namenskürzung zu, weil die BBC zuvor „Massive Attack“ als „unpatriotisch“ verurteilt hatte.

„Unfinished Sympathy“ - „best song of all time“

Ihre eigenen DJ-Erfahrungen gehen tatsächlich zurück bis ins Jahr 1979: Massive Attack legten HipHop, Soul und Jazz auf, sahen sich aber auch Punk-Konzerte an. Gingen zur Rap-Tour von Kurtis Blow, interessierten sich für Breakdance und Graffiti. Im Interview mit dem Zündfunk vor 20 Jahren erzählten die beiden Massive Attack-Köpfe, Robert Del Naja alias 3D, und Grant Marshall alias Mushroom, was das Neue an ihrem Sound ist: eben jener Wildstyle-Mix aus Punk, Rap und Dub.

„Irgendwann musst du deine Vorbilder nicht mehr kopieren – dann hast du deinen Stil und deine künstlerische Identität gefunden, sagten sie im Zündfunk-Interview 1994. Sie saugten im England der frühen 80er alle möglichen Einflüsse auf und brachten einen neuen Punkt dazu: den Reggae und den Dub. Zur Kolonialzeit kamen im Hafen von Bristol viele Sklaven-schiffe an – daher der starke Einfluss schwarzer Musik. „Aber ohne Punk, ohne The Clash, ohne Malcolm McLaren, ohne den Wildstyle-Film, ohne Graffiti-Künstler Futura 2000 wären ihre Zutaten nicht komplett,“ so 3D und Mushroom. Und vor allem nicht ohne die DJ-Kultur – erst dadurch merkten sie, daß sie keine klassische Band mehr gründen mussten: ein Mikrofon, ein Mischpult und zwei Plattenspieler reichten für die neuen Formationen der 80er.

"Blue Lines“ wurde zur Blaupause des Multi-Kulti-Englands erklärt

Der Zuspruch für ihre „Blue Lines“-Platte war überwältigend. Massive Attack mit ihrer schwarz-weiß gemischten Besetzung wurden gar als Zukunfts-modell entdeckt - die britische Zeitung Sunday Times schrieb: „Sie sind die wichtigste Gruppe, die es in England zur Zeit gibt. Bis "Blue Lines" erschien, war es immer noch möglich, die Frage zu stellen, ob aus dem Zusammen-treffen der Kulturen im modernen Großbritannien je etwas wachsen würde als Konflikt. Durch Massive Attack entfiel die Frage. Wir wussten, daß es passiert war.“ Der Soul-Pop-Dub aus Bristol gab also einen ersten Eindruck davon, wie ein Multikulti-England klingen könnte.            

Album Nummer 2 hieß „Protection“ und hatte einige Zeit beansprucht. Es baute mehr auf Instrumentierung denn auf Samples. Die gab es aber nach wie vor: der Titelsong fußt zB auf das magische James Brown – The Payback-Sample. Der Grund, wieso Massive Attack nach drei Jahren Pause nicht mehr mit Stammsängerin Shara Nelson zusammenspielten: sie waren enttäuscht von ihrer Solo-Entwicklung, wie sie im Zündfunk-Interview sagten: Shara wäre zu brav, zu kommerziell. Massive Attack hatten derweil mit Nicolette (einer heute leider vergessenen afrobritischen Stimme, zu hören auf ´Sly´) und Tracy Thorne von Everything But The Girl neue weibliche Stimmen gefunden. Tracy klingt „gespenstisch gut“, meinten sie damals: „die perfekte Verbindung für uns. Sie kommt und singt First Take im Studio. Und bringt klasse Texte mit.“ Tracy Thorn war so selbstbewußt, dass sie die Texte, die ihr Massive Attack geschrieben hatte, ablehnte und eigene geschrieben hatte.“ Auch wenn sie wieder viele unterschiedliche Stimmen auf dem Album hatten, sie sahen sich inzwischen als → Band – wenn auch nicht als Vokalband. Reggae-Sänger Horace Andy, der erster Künstler auf ihrem eigenen Label Melankolic war, war wieder mit von der Partie, Chaka Khan dagegen „verkackte“ die Kooperation, wie sie im Zündfunk Gespräch meinten. Und auch Freund und Großmaul Tricky war wieder mit an Bord.

Sein Beitrag hieß es „Karmacoma“ - bei Massive Attack. Dann landete es im gleichen Jahr auch auf Trickys Debüt – als „Overcome“, 1995. Die Samples stammen von Serge Gainsbourg (der Bass), der russischen Oper „Fürst Igor“ und Oberton-Gesangsaufnahmen, die auch schon The KLF benutzt hatten. „Wir sind aus mehreren Gründen ein Alptraum“ für unsere Plattenfirma, sagten sie – 1. wegen der Samples. 2. wegen der 100%igen künstlerischen Kontrolle, die sie behalten wollen und 3. wegen dem Dauer-Bekifftsein. Massive Attack waren immer an instrumentalem Dub interessiert:

„Das kommt von unserer Vorliebe für Reggae, da gibt es ja immer die instrumentale Dub-Version auf der B-Seite der Single. Wir finden die runtergestrippte Instrumental-Version genauso spannend wie die Gesangsversion. Das ist ja bei Rock und Pop ganz anders: da gibt es immer nur eine Version. Wir finden Remixe geradezu notwendig: dieses Rausnehmen von alten Teilen und dieses Zufügen von neuen Elementen, das ist für uns eine natürliche Art und Weise mit Musik umzugehen. Gute Dub-Instrumentals sind für uns wie dreckiger, tiefer-gelegter Science Fiction“.

Massive Attack im Zündfunk Interview 1998 – sie beschlossen, den britischen Dub-Musiker Neil Fraser alias Mad Professor zu kontakten – Auftrag: mach aus „Protection“ ein komplettes Dub-Album! Titel: „No Protection“.

„No Protection“ gilt als 1. Dub-Album einer britischen Dance-Band

„No Protection“ kam 1995 raus und gilt als erstes Dub-Album einer britischen Dance-Band. Heute, 20 Jahre später, spielt sogar ein Songwriter wie Bill Callahan ein Dub-Album seiner Folk-Songs ein und die bayerisch-schwäbischen Dub-Folkies von Das Hobos finden auch Gefallen an den langen Echos und den weiten Hallfahnen des ursprünglich jamaikanischen Dub-Reggaes. Massive Attack haben ihn Mitte der 90er auch in Club-Kreisen bekannt gemacht: die Plattenfirma beschrieb die Massive Attack vs Mad Professor-Platte denn auch als Chill-Out-LP, die in den Ambient-Räumen der Technoläden läuft. 1998 erscheint das dritte Studio-Album „Mezzanine“.

Robert Del Naja, genannt 3D, sagte damals im Zündfunk, daß der Titel meint: daß die Platte ein Zwischending sei, weder Keller noch Dach, ein halbes Stockwerk, eine Platte, die sich selbst nicht sicher sei.“ „Mezzanine“ als Sinnbild für ´zwischen-den-Orten´: das Unterwegs-Sein macht 3D zwar Spaß, aber oft ist das Fliegen von A nach B anstrengend. „Der Stress ist der Preis für das Exotische danach“, so der Bandboss.

Mit „Mezzanine“ holen sie Gold und Platin

Album Nr. 3, „Mezzanine“, war düster aber ziemlich erfolgreich. In Deutschland bekamen Massive Attack dafür eine Goldene Schallplatte, in den USA charteten sie das erste Mal – heimsten gleich Platin ein, während es in England wieder Nummer 1 wurde. Vier Millionen Mal verkaufte es. Nach einem Jahrzehnt klangen Massive Attack als anders: es gab einen festen Live-Gitarristen, Gründer Mushroom war ausgestiegen, der Soul/HipHop-Einfluss von Daddy Gee nahm ab, es blieb 3D und seine Gitarren-Ideen: er wollte einen punkigen Touch haben - mit leichten The Clash- und PIL/Public Image Limited-Anleihen, Wunschsängerin Siouxsie Sioux von Siouxsie & The Banshees klappte aber doch nicht.

Die Nullerjahren brachten viele Kino- und Werbe-Aufträge für das Duo, sie wurden zu einer der großen und teuren Festival-Bands, die jeder mal gesehen haben muss, aber musikalisch bauten Massive Attack ab.

2002 war auch das zweite Gründungsmitglied Daddy G ausgestiegen. Zum Ersten Mal. 2003 dann die Enttäuschung der Band – das vierte Album „100thWindow“ – das mit dem langjährigen Gitarristen Neil Davidge entstand. „100th Window“ war eine kalte Platte zwischen Art Pop und Gitarrennoise, von zwei weißen Studiotüflern, für Massive Attack-Verhältnisse fast ohne Soul und ohne die Groove-Wärme der frühen Platten. Im Jahr darauf dann eine echte Pleite: nach ein paar Dutzend von Veröffentlichungen von verheißunxvollen Künstlern wie Day One, Craig Armstrong, Alpha, Andy Horace und Sunna – 2004 schließt das Massive Attack-Label seine Pforten. Am Ende war Melankolic Records nur mehr vom Massive-Manager Mark Picken betrieben worden. Und Del Naja wird verhaftet: die Anklage lautet Besitz von Ecstasy und Kinderpornographie.

HipHop und Tanzmusik für Leute, die HipHop und Tanzmusik nicht mögen

Massive Attack waren nicht mehr die HipHopper, für Leute, die keinen HipHop mögen, Massive Attack waren auch nicht mehr die DJ-Crew, die Tanzmusik machen, für Leute, die keine Tanzmusik mögen – so ein altes Klischee der Band – Massive Attack sind zu einer Art Dinosaurier geworden, der alle fünf, sechs, sieben Jahre mal eine neue Platte vorbeibringt. 2009 kommt ihr letzter, klassischer Song raus: „Paradise Circus“ feat Hope Sandoval (ex-Mazzy Star). Auf ihrem bislang letzten Studio-Album, auf „Heligoland“, fangen sie sich wieder etwas. Gastsängerin hier: Hope Sandoval, bekannt als Stimme von Mazzy Star. Auf einer Maxi aus dem Jahr sind auch die Sänger von Elbow und TV On The Radio auf Massive-Songs zu Gast. 2011 kam die Remix-Maxi von „Paradise Circus / Four Walls“ in die Läden: beide Songs in einer Late-Night-Dubstep-Version von Wundermischer Burial. 2012 remixten Massive US-HipHopper Nas. 2013 traten sie bei der Ruhr-Triennale mit ihrer Konzert-/ Film/-Performance „Massive Attack vs Adam Curtis“ auf.

„Du hast das Buch geöffnet, nun willst du immer mehr wissen“

2014 erklärte Band-Freund Tricky, dass er und Damon Albarn es endlich geschafft hätten, Mushroom und 3D wieder ins Studio zu bekommen, um gemeinsam an neuem Material zu arbeiten. Klingt ja verheißungsvoll, man ist dieser Band ja doch irgendwie noch verbunden … Wie heißt es doch im Text von „Unfinished Sympathy“: „you are the book that I have opened, and now I´ve got to know much more“ - wenn man sich einmal für diese Band interessiert, will man immer wissen, wie es weiter geht, was als nächstes kommt. Vielleicht Besseres. Vielleicht 2015... Wie beschrieben sie doch in beiden Zündfunk-Interviews, die Roderich Fabian geführt hat, das, was sie machen: „we make music for dreamscapes and make room for phantasies. it´s for the afterhours, it´s for making love in the bath.“


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