Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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8. November 1917 Lenins Dekret über Grund und Boden

Lenins Dekret über Grund und Boden vom 8. November 1917 war eine nüchterne Angelegenheit von größter politischer Brisanz. Trotzdem fiel es Humoristen zum Opfer.

Stand: 08.11.2013 | Archiv

08 November

Freitag, 08. November 2013

Autor(in): Julia Devlin

Sprecher(in): Andreas Wimberger

Illustration: Angela Smets

Redaktion: Thomas Morawetz

Im Kommunismus gab es wenig zu lachen. Doch für Witze war er trotzdem immer gut. In der Bevölkerung kursierten zahlreiche Witze, auf Russisch Anekdoty genannt. Mit einem Witz schloss man die Kluft zwischen dem Pathos der Propaganda und der Banalität des alltäglichen Existenzkampfes. Mit einem Witz verweigerte man dem repressiven System den Respekt. Und seinen Repräsentanten. Dabei richtete sich der Spott bevorzugt auf bestimmte charakterliche Defizite. Brezhnev beispielsweise ist träge und weltfern, Stalin grausam und unberechenbar. Lenin, der von der Propaganda als gütig, allwissend und allgegenwärtig dargestellt wird, kommt in seinen Witzen als verschlagen und heuchlerisch rüber. Und die Tatsache, dass seine Ehe kinderlos geblieben war, entlockt den Spöttern dezente Hinweise darauf, dass der große Bolschewikenführer auf Ebenen außerhalb der Politik sein Soll, nun ja, nicht ganz erfüllte.

Lenin in der Hand von Humoristen

Auch seine Parolen gaben viel her. Nehmen wir Lenins berühmten Leitsatz über die Modernisierung: Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Mathematisch begabte Humoristen stellten die Umkehrrechnung zu dieser Gleichung auf: Also Elektrifizierung des ganzen Landes ist Kommunismus minus Sowjetmacht? Oder ist Sowjetmacht Kommunismus minus Elektrifizierung?

Lenin war aber damals mit der Revolution ziemlich eingespannt und konnte sich nicht darum kümmern, ob seine Gleichungen den Regeln der Algebra standhielten oder nicht. So erarbeitete er ein Dekret über den Boden, dessen Einzelheiten jeder, der des Lesens fähig war, am 8. November 1917 der Zeitung Izvestija entnehmen konnte. Das war einen Tag nach der Oktoberrevolution. "Das Eigentum der Gutsbesitzer, der Kirchen und Klöster an Grund und Boden wird unverzüglich enteignet, mitsamt lebendem und totem Inventar". Entschädigungslos, versteht sich. Kennen Sie den, übrigens: Die Bauern werden für ihre Produkte mit neuen Silbermünzen bezahlt. Was tun sie - sie bekreuzigen sich!  Warum bekreuzigt ihr euch? werden sie gefragt. Das sind doch sowjetische Münzen! Ja, antworten die Bauern - aber das Silber ist von der Kirche.

Stalins Lieblingswitz

Mit der Enteignung wollten die Bolschewiken die Bauern auf ihre Seite ziehen. Und die Lebensmittelversorgung sicher stellen. Eine Rechnung, die nicht aufging. In wenigen Jahren ging die landwirtschaftliche Produktion auf das Niveau von vor 1917 zurück. Der folgende Witz, der schön dazu passt, soll übrigens Stalins Lieblingswitz gewesen sein:

Also. Ein Funktionär erklärt den Bauern, wie das Leben im Kommunismus eines schönen Tages sein wird: "Stellt euch vor, es wird genug für alle geben! Reichlich zu Essen und zu Trinken, Kleidung, ein Paar Stiefel! Und man wird ins Ausland reisen können!" Kräht eine alte Babuschka aus der letzten Reihe: "Oh wie wundervoll, Genosse! Genau wie unter Väterchen Zar!"

Wer sich getraut hat, Stalin diese Anekdot zu erzählen, ist übrigens nicht überliefert. Geschätzte 200.000 Menschen waren in damals wegen Witzeerzählens inhaftiert, wegen anti-sowjetischer Konversation. Und das ist kein Witz.


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