Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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20. November 1913 Kaiser Wilhelm II. verbietet seinen Offizieren das Tangotanzen in Uniform

Ein bisschen melancholisch, ein bisschen sinnlich, sehr erotisch - Tango erhitzt seit jeher nicht nur Tanzende, sondern auch Zuschauende. Manche der Letzteren sogar so sehr, dass sie dem Tango die Musik abdrehen wollen. Autor: Christian Feldmann

Stand: 20.11.2015 | Archiv

20 November

Freitag, 20. November 2015

Autor(in): Christian Feldmann

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Im Februar 1914 entsetzte sich der Kardinalvikar der Diözese Rom über einen unerhörten Vorgang: Ein "Attentat" habe im Vatikan stattgefunden, ein "Attentat auf das Familien- und Gesellschaftsleben", eine "schamlose, heidnische" Attacke! Was war geschehen? Papst Pius X., bekannt als sehr fromm, aber auch ängstlich, hatte die Gläubigen vor einem aufreizenden neuen Tanz aus Südamerika gewarnt, der sich Tango nannte. Daraufhin reiste der überaus populäre argentinische Tangotänzer Casimiro Aín mit einer bildschönen Botschaftssekretärin nach Rom, verschaffte sich irgendwie Zutritt zum Vatikan und führte dem staunenden Papst den gefürchteten Tanz vor.

Vortanzen beim Papst

Pius X. war von der Eleganz und Melancholie der Darbietung so bewegt, dass er auf ein Verbot verzichtete - und die erzkonservativen Prälaten hatten ihren Skandal. Dabei war es angeblich der große Kirchenvater Augustinus gewesen, der die spirituellen Werte des Tanzens rühmte und zu sagen pflegte: "O Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen!"

Augustinus kannte allerdings noch nicht die modernen Klammertänze aus den lateinamerikanischen Hafenkneipen und Bordellen. Seine halbseidene Herkunft hat man dem Tango auch noch vorgeworfen, als er längst salonfähig geworden war in Paris und Wien, Berlin und Moskau. Europäische Emigranten, Einheimische aus der Pampa, kleine Ganoven tanzten den Tango zuallererst in den Spelunken von Montevideo und Buenos Aires, gaben tanzend ihren Träumen von Liebe und sozialem Aufstieg Ausdruck.

Melancholische Leidenschaft

Viel zu melancholisch und verspielt ist dieser Tanz, um plumpe Sinnlichkeit zu transportieren: Der Tango beginnt zwar ohne Anlaufphase sofort mit einer engen Umarmung, aber dieser "abrazo" verpflichtet zu nichts und ist sozusagen eine technische Notwendigkeit: Die Frau muss wissen, wohin sie der Mann führen will, damit sie ihrerseits aus seinen Impulsen etwas machen kann. Es ist ein anstrengender, aber wunderschöner Dialog der Körper, diszipliniert, voller Andeutungen - und alles andere als ein Macho-Szenario. "Ich fühlte mich extrem weiblich und gleichzeitig furchterregend mächtig", schwärmte die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Gelegenheitsschauspielerin Johanna Siegmann nach ersten Tango-Erfahrungen. Die Sinnlichkeit des Tangos sei nur erfahrbar, bei absolutem gegenseitigem Respekt. Während des Tanzes können die Energien verschmelzen, weil die Grenzen perfekt definiert und beachtet werden.

Kaiser Wilhelm II. und seine ziemlich bigotte Gattin Auguste Victoria sahen das ganz anders. Der preußische Kronprinz verkehrte auffallend gern in den Berliner Tanzpalästen, wo der Tango Triumphe feierte. Entsetzt ließen Seine Majestät sich von Diplomaten sowie hohen Militärs berichten, die ihre Beine um die in hochgeschlitzten Chiffonröcken steckenden Waden ihrer Damen schlangen. Am 20. November 1913 verbot Kaiser Wilhelm seinen Offizieren das Tangotanzen in Uniform. Ein halbes Jahr später zog König Ludwig III. in München nach und untersagte den bayerischen Offizieren ebenfalls das anrüchige Vergnügen. Doch Bayern und Preußen hatten bald andere Sorgen, der Krieg brach aus, die Majestäten wanderten ins Exil, und der Tango setzte seinen Siegeszug fort. 2009 erklärte ihn die UNESCO zum Weltkulturerbe. In der evangelischen Lutherkirche Köln gibt es übrigens regelmäßig Tango-Gottesdienste. "Im Tango vereint sich alles, was das Leben ausmacht", heißt es auf der Homepage der Kirchengemeinde. Sehnsucht, Einsamkeit, Leidenschaft, Erotik und Wut: Tango sei der getanzte Traum von einem besseren Leben.


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