Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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10. Mai 1953 Chemnitz wird in Karl-Marx-Stadt umbenannt

Alte Städte umbenennen gehört zu den Königsdisziplinen selbstbewusster Ideologen. Herausforderungen sind damit verbunden für Bevölkerung und Volksliedgut. Am 10. Mai 1953 wird aus Chemnitz Karl-Marx-Stadt. Autor: Thomas Grasberger

Stand: 10.05.2016 | Archiv

10 Mai

Dienstag, 10. Mai 2016

Autor(in): Thomas Grasberger

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Heimatlieder sind schon eine besondere Sache, werden in ihnen doch stets auch besondere Orte besungen. Orte, an denen hohe Tannen die Sterne weisen. Oder der schönste Wiesengrund inmitten des stillen Tales ruht. Oder wo der Brunnen vor dem Tore unterm Lindenbaume … na ja, und so weiter. Das Schöne daran ist: Heimatlieder gibt´s für fast alle Gebiete, außer vielleicht überschwemmungsgefährdete Gebiete, verbaute Gebiete, besetzte Gebiete, Gewerbegebiete und dergleichen mehr.

"…über Autobahn und Schien"

Okay, zugegeben, so viele bleiben dann gar nicht mehr übrig. Vielleicht werden deshalb heute nur mehr selten Heimatlieder gesungen. Zumindest seltener als damals in der DDR, wo im Dienste des Sozialismus oft wunderbare, zumindest aber wundersame Liedzeilen gedichtet wurden. Zum Beispiel: "Was machen wir zu Pfingsten, wenn die Wiesenblumen blühn / Wir fahren nach Karl-Marx-Stadt über Autobahn und Schien'..."

Für alle, die zu früh oder zu spät geboren sind, sei gesagt: Karl-Marx-Stadt war - der Name deutet es bereits an - eine Stadt. Gelegen am Rande des Erzgebirges. Und zwar eine, die zuvor über 800 Jahre lang Kameniz oder Chemnitz hieß. Weil jedoch die Chefs der jungen DDR das Jahr 1953 offiziell zum Karl-Marx-Jahr erklärt hatten und weil Chemnitz gerade Sitz eines DDR-Bezirks geworden war, drum adelte man das sächsische Manchester, wie es wegen seiner industriellen Bedeutung und seiner traditionell starken Arbeiterbewegung genannt wurde, am 10. Mai 1953 mit einer Umbenennung. Auf höchsten und einsamen Beschluss der Regierung hieß die Stadt Chemnitz fortan "Karl-Marx-Stadt". DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl nahm die Umtaufe höchstpersönlich vor und erklärte den Chemnitzern, warum sie froh darüber waren, respektive zu sein hatten. Nämlich, weil sie nicht rückwärts, sondern nach vorne, auf den Sozialismus schauten. Und weil sie dem Begründer der sozialistischen Lehre Karl Marx mit Liebe und Verehrung begegneten.

Augen blau

Bekanntlich irrten Einheits-Partei und Regierung der DDR ja nie, so dass Karl-Marx-Stadt bald schon vom Partei-Volk in die Herzen geschlossen und im Heimatlied verewigt wurde. Etwa mit den Zeilen: "Und das Blau unsrer Fahne ist das Sonntagshimmelblau / Ist das Blau der Ozeane und der Veilchenmorgentau / Ist das Glänzen vieler Augen, das Gedränge einer Stadt / Die von Marx ihren Namen und ihr neues Leben hat."

Im Herbst 1989 zog tatsächlich auch in Karl-Marx-Stadt - wie in vielen Städten der DDR - neues Leben ein, denn es kam zum großen Gedränge. Vorzugsweise montags, als Tausende vom Karl-Marx-Monument zum Rathaus pilgerten, um gegen das Regime zu demonstrieren. Das Blau seiner Fahne war nämlich längst schon nicht mehr das Blau der Ozeane, sondern das der Veilchen, die friedliche Demonstranten von Stasi-Schlägern verpasst bekamen. Die Zeit der DDR war vorbei. Und mit ihr die von Karl-Marx-Stadt. Bei einer Volksabstimmung im April 1990 entschieden sich 76 Prozent der Bürger für den alten Namen Chemnitz. Im Internet aber kursieren bis heute leicht ironische Hiphop-Songs mit dem Titel "I like Karl-Marx-Stadt". Heimatlieder sind eben eine ganz besondere Sache. Wie die Orte, die in ihnen besungen werden.


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