Bayern 2 - Das Kalenderblatt


1

8. März 1970 Uraufführung von Samuel Becketts "Atem"

Minimalismus pur: Aristoteles verlangt für ein Drama Anfang, Mitte und Schluss. Samuel Beckett schafft das in ca. 35 Sekunden. Autorin: Justina Schreiber

Stand: 08.03.2017 | Archiv

08 März

Mittwoch, 08. März 2017

Autor(in): Justina Schreiber

Sprecher(in): Ilse Neubauer

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Wenn auf der Bühne mal wieder minutenlang gestorben wird, oder sich eine quälende Nackt- oder Brüll-Szene an die nächste reiht, und dann diese nicht enden wollenden Monologe zum Thema "Sein oder Nicht-Sein"… Du meine Güte, wie schnell kann einem im Theater doch die Zeit lang werden. Die harten Sitze tun ein Übriges. Einmal lang ausstrecken wäre schön. Zu allem Übel stinkt der Sitznachbar nach Schweiß. Und während der Held oben auf der Bühne zum gefühlt tausendsten Male seinen Lebensüberdruss wortreich artikuliert, spürt man selbst es in der Luftröhre kitzeln, gleich, es kann sich nur noch um Sekunden handeln, überkommt einen ein unerträglicher, das gesamte Publikum aufstörender Hustenreiz. Schnell, kruscht, kruscht, in der Handtasche gesucht und dann knister, knister ein Bonbon ausgewickelt und in den Mund geschoben….

In der Kürze liegt die Würze

Ach, herrjemine, warum bloß verlangt einem die Hochkultur nicht nur eine gute Portion Hirnschmalz, sondern auch so viel Sitzfleisch ab?! Kann man das alles nicht schneller sagen, irgendwie präziser auf den Punkt bringen? Die Botschaft ist doch eh meist recht kurz: So ist das Leben eben. Oder: Pech gehabt. Oder: Kommt davon. Die Antwort lautet: Man kann. Der absolute Gewinner im Wettkampf "Wer schreibt das kürzeste anspruchsvolle Theaterstück?" heißt Samuel Beckett.

Sein Miniaturdramolettchen "Atem", beziehungsweise "Breath" im Original, wurde am 08. März 1970 in Oxford uraufgeführt. Es dauert nur etwas länger als eine halbe Minute. Aber es zeigt die gesamte Tragödie menschlicher Existenz: ein Schrei ertönt, ein Scheinwerfer blendet langsam auf, gleichzeitig hört man ein tiefes Einatmen, dann Stille, man sieht die Bühne mit Müll übersät, das Licht blendet wieder ab, parallel ertönt ein Ausatmen, dann wieder ein Schrei, aus. Kaum haben die Zuschauer - hoffentlich rechtzeitig - Platz genommen, können sie auch schon wieder aufstehen, hinausschlendern, eine Zigarette inhalieren und über das Stück diskutieren. Garantiert dauert die Diskussion in diesem Fall länger als das Stück.

Was ja letztlich für den Autor spricht. Oder soll es etwa ein Witz sein, den sich im Grunde nur ein Nobelpreisträger wie Beckett erlauben kann, wenn er das Plappern, Labern und Herumstammeln nun komplett dem Publikum überlässt?

Die Stille zwischen Ein- und Ausatmen

Auf der Bühne gibt es keine Akteure mehr. Eine Katastrophe scheint die letzten der Art dahingerafft zu haben. Und doch kommt ein menschliches Geräusch vom Band. Wer atmet da? Beckett oder ist es vielleicht… Godot? Im Zentrum des absurden Stückes steht die Pause, die kleine Stille zwischen Ein- und Ausatmen. Ob der beleuchtete Müllhaufen auf die fatalen Folgen des menschlichen Horror vacui verweist? Auf die Angst vor der Leere, die sich so praktisch mit Labern, Plappern, Handeln, Tun und Machen füllen lässt…? Nicht nur, dass alles eitel ist, es ist auch alles dreckig nachher. Puh, echt nicht toll, wenn einem das eigene Dasein, für das man schließlich nichts kann, in Windeseile so pauschal um die Ohren gehauen wird!  Da lobt man sich ja fast schon wieder irgend so ein überambitioniertes Regietheaterstück mit zum Gähnen langweiligen Monologen, unverständlichen Videoeinblendungen und coolen Tanz- oder Gesangseinlagen.


1