Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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1. September 1914 Letzte Wandertaube ihrer Art stirbt im Zoo von Cincinnati

Traurig, aber wahr: Der Mensch weiß oft erst, was er hat, wenn er es nicht mehr hat. Beispiel: Wandertauben. Erst werden sie fast vollkommen ausgerottet, dann will man sie zum Weiterbrüten animieren. Autorin: Prisca Straub

Stand: 01.09.2016 | Archiv

01 September

Donnerstag, 01. September 2016

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Martha ist schon lange eine Berühmtheit. Doch als sie stirbt, ist sie unermesslich einsam. Ohne Umschweife hängt man sie sogleich kopfüber an ihren orange-roten Füßen auf,  versenkt sie in einen Bottich mit Wasser und friert sie ein. Schlank, anmutig, keine 30 Jahre alt - konserviert in einem 140-Kilo Eisklotz - so tritt Martha ihre letzte Reise an. Nach Washington - wo eifrige Präparatoren-Hände auf ihren zarten Körper warten. Denn Martha, die Wandertaube, war die letzte ihrer Art.

Das war's

Wo immer Marthas Vorfahren einst auftauchten, verdunkelte sich der Himmel, sogar am helllichten Tag. Ein kilometerlanges, rauschendes Knäul aus schieferblau und purpur blitzenden Vogelleibern - und immer auf der Suche nach Nahrung: Eicheln, Bucheckern, Beeren, Obst und Getreide. Wo die gewaltigen Schwärme einfielen, hinterließen sie restlos leergefressene Felder und verwüstete Wälder - der Boden zentimeterdick bedeckt mit einer ätzenden Schicht aus glitschigen Exkrementen. Kein Wunder, dass die Landbevölkerung dem Treiben der Wandertauben zwischen Minnesota und Pennsylvania nur wenig abgewinnen konnte.

Farmer und Jäger holten die Schrotflinten aus dem Schrank, wenn die gefiederten Wirbelstürme am Horizont erschienen und feuerten blindwütig drauflos. Sie schlugen die Tiere mit langen Stöcken aus der Luft, wenn sie besonders niedrig flogen. Die Wandertaube wurde abgeschlachtet und gegessen, in unvorstellbaren Stückzahlen - ein millionenfaches Gemetzel. Und weil das zarte und besonders fette Fleisch der Jungtiere so begehrt war, holte man auch die Küken systematisch von den Bäumen: Die riesigen Brutkolonien wurden ausgeräuchert, bis der verzweifelte Nachwuchs in Panik aus den Nestern sprang und nur noch eingesammelt werden musste. Wochenlang stand auf dem Speisezettel dann nichts anderes als Wandertauben-Fleisch.

Sterbenstraurig

Anfang des 20. Jahrhunderts war die unfassbar große Population so gut wie erledigt. Die ungeheuren Schwärme - ausgerottet. Letzte Überreste der Spezies existierten zwar noch in Zoos, hatten dort aber keine Lust zu brüten: Wandertauben ertragen weder Enge und noch Einsamkeit und kommen ohne ihre Artgenossen einfach nicht in Balzstimmung.

Auch Martha nicht: Sie lebte noch jahrelang im Zoo von Cincinnati, Ohio. Doch die Männchen, die man ihr als Begleitung in den Käfig setzte, verendeten traurig, ohne für ein frisches Gelege gesorgt zu haben. Hohe Belohnungen wurden ausgesetzt, um neue Gefährten für Martha zu finden - vergeblich. Als sie ihre hübschen roten Augen für immer schloss und am 1. September 1914 von der Stange fiel, blieb nichts anderes zu tun, als ihren Körper fürs Naturkundemuseum auszustopfen. Vor der verlassenen Pagode errichtete der Zoo ein Denkmal, eine bronzene Martha mit gelüfteten Schwingen, so wie kurz vor dem Abheben. Für ihre Artgenossen hatte es nur Schrotkugeln gegeben. Doch für Martha - die allerletzte ihrer Art, gab es auf einmal eine Ehrenstatue - und sogar einen Namen.


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