Bayern 2 - Hörspiel


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Walter Serner Letzte Lockerung

Stand: 12.02.2016

Walter Serner im Börsenblatt für den dt. Buchhandel, 25.11.1927 | Bild: Börsenblatt für den dt. Buchhandel

Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, diese "glänzende Analyse des Zeitalters des vollendeten Nihilismus" (Jörg Drews) schrieb Walter Serner 1918. 1920 veröffentlichte er den ersten Teil als dadaistisches Manifest. Erst 1927 kam ein weiterer Teil dazu und das Werk erhielt seinen Untertitel. Die Letzte Lockerung bietet Hinweise zu allem, worüber Kosmopoliten informiert sein sollten, darunter Menschenkenntnis, Reisen und Hotels, Männer, Frauen, Kleidung und Manieren, Elementares und Sonderlich Wichtiges. Serner wirft mit diesem Ratgeber für Dandytum und anarchischem Hedonismus Schlaglichter auf eine moralisch verkommene Gesellschaft und feiert die Individualität. Neben unausführbaren Handlungsanweisungen (womit er den Situationisten einige Jahrzehnte vorgegriffen hat) stehen scharfsinnige Analysen politischer Zustände und lakonisch formulierte Welterkenntnisse. Sieben Motti stellt er Teil 1, acht Motti Teil 2 voran. Dazwischen eingestreute Lieder zu völlig anderem. Den roten Faden bildet die Zerstreuung, das Enzyklopädische.

"Walter Serners Lektüre als letzte Lockerung vor der Auflösung der Strukturen. Dirk von Lowtzows Stimme als Bindeglied zwischen Serners geistreich und kühl aggressiver Hochstapler Lyrik und einer minimalistischen Elektrosymphonie. Lieder als bis ins Detail fragmentierte Tracks, werden zerhackt, aufgeladen mit Disharmonien, abgebrochene Rhythmen, melancholische Melodielinien, verfilterte Soundschleifen, eingestreute Störsignale und Rauschen. Ein A-Capella Stil – erst einstimmig, dann zweistimmig, um in einem mehrstimmigen Chor zu münden, unterlegt von sich endlos wiederholenden Sounds in variierenden Schattierungen. ‚Der zerebrale Rausch, in dem diese Lektüre geschieht, kann nicht groß genug sein‘,  schrieb Walter Serner, der zerebrale Rausch, der beim Hören entsteht, sollte es ebenso sein."

(zeitblom)

Walter Serner: Letzte Lockerung

Mit Dirk von Lowtzow
Komposition und Realisation: zeitblom
BR 2012

Dirk von Lowtzow ist seit 1993 Sänger, Songschreiber und Gitarrist bei der deutschen Rockband Tocotronic.

Walter Serner (1889-1942); geboren in Karlsbad als Walter Seligman, ermordet im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk. 1909 Konvertierung vom Judentum zum Katholizismus und Annahme des Nachnamens Serner. Erste Veröffentlichungen zu Theater und Bildender Kunst in der väterlichen Karlsbader Zeitung. 1912 Übersiedlung nach Berlin und Jura-Studium.  Veröffentlichungen in der Zeitschrift Die Aktion. 1914 Übersiedlung in die Schweiz. Mitarbeit an der Zeitschrift Der Mistral. Reisen zwischen Italien, Paris, Genf und Zürich. Kontakt zu den Züricher Dadaisten. Serners Manifest gilt als Vorlage für Tristan Tzaras in französischer Sprache verfasstes Manifest Dada 1918. Abkehr von den Dadaisten.

Veröffentlichung zahlreicher Werke zum Teil in Privatdruck, u.a. Die Tigerin (Roman); Der Pfiff um die Ecke (Erzählsammlung) ; Die tückische Straße ; Posada oder der große Coup im Hotel Ritz. 1925 erste antisemitische Attacken. 1927 Rückzug ins Privatleben. 1938 Heirat mit Dorothea Herz. Ab 1939 mehrere Versuche, nach Shanghai auszuwandern. Arbeit als Sprachenlehrer im Prager Ghetto. Am 10. August 1942 Deportation nach Theresienstadt, wenige Tage später nach Minsk.


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