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"Geronimo" Leon de Winter macht Osama bin Laden zum Romanhelden

Leon de Winter gehört zu den bekanntesten niederländischen Autoren hierzulande. Brisante Themen scheut er nicht, sein neuer Roman baut eine Geschichte um eine problematische Hauptfigur: Osama bin Laden.

Von: Bettina Baltschev

Stand: 11.10.2016

Buchcover "Geronimo" von Leon de Winter | Bild: Diogenes Verlag, Montage. BR

Er ist das personifizierte Böse: Osama bin Laden. Einen Roman zu schreiben, in dem der Al-Kaida-Gründer und mutmaßliche Drahtzieher der New Yorker Terroranschläge vom 11. September 2001 als Mensch sichtbar wird – das kann man durchaus als Provokation verstehen. Aber Leon de Winter liebt die Provokation, und so lässt er Osama bin Laden in "Geronimo" auf dem Moped durch die pakistanische Nacht fahren, um Eis für die liebste seiner drei Frauen kaufen.

"Hinten auf dem Moped führte er eine kleine Kühlbox mit, in der er das Eis verstauen konnte, das er seiner jüngsten Frau versprochen hatte. Sie kannte ihn besser als jeder andere, besser noch als seine älteste Frau. Wie ein wildes Tier war sie, mit ihrem kleinen, aber geschmeidigen Körper und ihrer Intuition, die ihn manchmal in Erstaunen versetzte."

aus: Leon de Winter, Geronimo

Bach in Afghanistan

Eine Zufallsbegegnung bringt das Geschehen ins Rollen. Bin Laden trifft eine junge verstümmelte Bettlerin, fühlt sich von ihr erkannt, fürchtet ihren Verrat und nimmt sie mit in sein luxuriöses Versteck. Rückblickend erfahren wir, dass dieses Mädchen, Apana, die Tochter eines afghanischen Dolmetschers ist. Auf einer US-Basis hatte ihr der Geheimdienst-Agent Tom das erste Mal Bachs Goldberg-Variationen vorgespielt.

"Schutzlos stand sie in Bachs Universum, in dem sich eine Note wunderbar natürlich zur anderen fügte und einen harmonischen Fluss bewirkte, der über die Natur hinausragte. Sie schaute zu den Lautsprecherboxen, sah mich an, verzweifelt fast, um eine Antwort auf die Frage flehend, warum ihr das aufgebürdet wurde, warum sie inmitten der Unvollkommenheit das Vollkommene erfahren musste. Sie wusste von dem Moment an, dass Schönheit schmerzte, weil ihre Erfahrung endlich war – das wusste ich, weil ich es selbst als Kind so erlebt hatte."

aus: Leon de Winter, Geronimo

Eine fiktive Entführung Bin Ladens

Bin Laden, Apana, Tom, um die Schicksale dieses Dreigestirns dreht sich der Roman, in dem sich außerdem Dutzende Nebenfiguren tummeln: Araber, Israelis und Amerikaner, Juden, Christen und Muslime und, nicht zu vergessen, ein mysteriöser USB-Stick Bin Ladens. Anders als es offizielle Version vorgibt, wird Bin Laden in dieser Geschichte aber nicht getötet, sondern von einer amerikanischen Einsatztruppe, alles echte Kerle, entführt und in Tadschikistan gefangen gehalten.

"Er schlief auf einer neuen Matratze, vermutlich eigens für ihn angeschafft; kein Kopfkissen, aber eine Decke. Sie stutzten ihm den Bart, schnitten ihm die Haare. Im Keller roch es nach dem, was ein Körper ausschied. Das war nicht angenehm, aber auch keine Beschwernis. Es hatte in seinem Leben Zeiten mit weniger Komfort gegeben. Wenn es hierbei blieb, würde er überleben – falls sie ihn nicht exekutierten."

aus: Leon de Winter, Geronimo

Die Leerstellen der offiziellen Berichterstattung

Leon de Winter

Es ist ein wildes Spiel um Fiktion und Wirklichkeit, um Verschwörungstheorien und wage Vermutungen, das Leon de Winter hier treibt. Gekonnt jongliert er mit Daten und Fakten, schon der Titel "Geronimo" verweist auf das Codewort der CIA, die den amerikanischen Präsidenten vom Tod Bin Ladens informieren soll. Die Leerstellen der offiziellen Berichterstattung jedoch füllt de Winter mit seiner blühenden Fantasie, fabuliert über einen Doppelgänger Bin Ladens und bespielt das komplette Register der B-Movie-Gefühlsorgel. So, wenn er das Mädchen Apana, das keine Hände mehr hat, und den Jungen Jabbar, dessen Familie sie später aufnimmt, in scheuer Verliebheit vereint.

"Er beugte sich vor und küsste sie, schmeckte den Granatapfel, und sie schob ihn nicht von sich weg, nein, sie legte die Arme um ihn, er hörte, dass in seinem Nacken die Haken gegeneinandertickten, aber nichts hielt ihn zurück. Und seltsamerweise öffnete sie ihren Mund, und er auch, und er erschrak kurz, aber auch wieder nicht, denn er kostete ihre Zunge, und ihre Zunge war das Schönste und Süßeste, was er je gekostet hatte."

aus: Leon de Winter, Geronimo

Zugegeben, die Lektüre dieses Buches lässt einen nicht kalt. Das liegt vor allem an den ambivalenten Gefühlen, mit denen es den Leser zurücklässt. Was genau hat man denn da jetzt gelesen? Einen Politthriller, eine Satire, ein Enthüllungsbuch oder alles auf einmal? Vielleicht kann man sich darauf einigen: Wer amerikanische Serien mag - "Homeland" zum Beispiel oder "House of Cards"-, der wird dieses Buch lieben. In Tempo, Tonfall und Absurdität hält dieser Roman locker mit. Wer sich aber literarisches Feingefühl erhofft, sprachliche Finesse oder eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem globalem Terrorismus, der wird enttäuscht werden. Das kann dieser Roman nicht leisten und - davon kann man wohl ausgehen - das will dieser Roman auch gar nicht leisten.

Diwan

Für das Bayern 2-Büchermagazin hat Bettina Baltschev den neuen Roman von Leon de Winter gelesen.
Samstag, 15. Oktober 2016, 14:05 Uhr (Wiederholung 21:05 Uhr)

Leon de Winter: "Geronimo", Roman, 448 Seiten, Diogenes Verlag, 24,00 Euro


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