Bayern 2 - Bayerisches Feuilleton


18

"Moment amoi!" Eine bayerische Geschichte der Zeit

Am Anfang war die Zeit. Und sie war lange Zeit. Mindestens 10 Milliarden Jahre lang. Dann wurde es ihr jedoch zu langweilig und es bildeten sich auf dem dritten Planeten eines kleinen Sonnensystems am Rande der Milchstraße replikationsfähige organische Verbindungen, die sich im Laufe von 3 bis 4 weiteren Milliarden Jahren zu sonderbar geformten Lebewesen weiterentwickelten, zu deren Lieblingsbeschäftigungen es u.a. gehört, sich Gedanken über die Zeit zu machen.

Von: Thomas Kernert

Stand: 06.05.2017 | Archiv

Platon versus Plotin

Plotin, antiker Philosoph ( 205-270 v. Chr.)

Der alte Platon behauptete bereits vor über 2500 Jahren, dass die Zeit ein bewegliches Abbild der Ewigkeit sei, welche uns Menschen nur in einer unendlichen Abfolge von Bildern zugänglich sei.

Plotin, ein gebürtiger Ägypter, stellte rund 200 Jahre nach Platon fest, dass es genau drei Zeiten gäbe und alle drei seien die Gegenwart. Die erste Gegenwart ist die Gegenwart, in der etwas geschieht. Die zweite Gegenwart, ist die Gegenwart der Vergangenheit, Erinnerung genannt. Die dritte ist die Gegenwart der Zukunft: das, was sich unsere Hoffnungen, Erwartungen oder Ängste vorstellen.

Auch in Bayern gibt es mindestens drei Zeiten

Wenn man nicht auf die Uhr, sondern auf Bayern schaut, gibt es mindestens drei Zeiten: Die eine vergeht zu schnell, die andere zu langsam, die dritte überhaupt nicht.

Die erstere ist die Zeit der Gestressten

Derer, die ein Menschenleben lang damit beschäftigt sind, keine Zeit zu haben. Schuld daran ist freilich nicht die Zeit, sondern, zumindest mittelbar, der oder die Gestresste.

Keine Zeit haben sie, weil sich zu viele Termine in ihren Kalender-Apps tummeln. Darüber hinaus sind Fristen und Laufzeiten zu beachten, Produktionspläne einzuhalten und Produktionsmethoden zeitlich zu optimieren. Die Logik dahinter: Immer effektivere Produktionsmethoden ermöglichen immer kürzere Innovationszyklen, welche immer intensivere Kapitalverwertungen erlauben, wodurch immer effektivere Produktionsmethoden der immer schneller rennenden Katze in den Schwanz beißen. Das Ganze nennt sich "Beschleunigungsökonomie".

Nicht zu vergessen bei diesem Run ums goldene Kalb: Das durch immer intensivere Kapitalverwertung in immer kürzeren Innovationszyklen mit immer effektiveren Produktionsmethoden Erzeugte muss trotz aller Zeitnot irgendwann auch noch dummerweise konsumiert und in Abfall verwandelt werden!

Diese "Zeit der Gestressten" ist aber zugleich auch die Zeit all der Entschleunigungs-Apostel, die in zeit-intensiven Beiträgen den Narren die frohe Botschaft der Langsamkeit zu verkünden sich bemühen. Und sie ist die Zeit der Konservativen und Gemütlichkeitsfetischisten, die den zu schnellen Lauf der Zeit mit magischen Formeln und Ritualen zu ignorieren versuchen.

Die zweite Zeit ist die Zeit der Wartenden, Ungeduldigen und Gelangweilten

Zeit ist für sie eine dickflüssige, zu steter Gerinnung neigende Masse, die alles systematisch verstopft und irgendwann auch die Luftröhre bedroht. Sie ist "felseneingerammte trübe Lebens-Saumseligkeit", welche nicht mit einem kurzen Seufzer, einem guten Buch oder einer unterhaltsamen Fernsehsendung abgeschüttelt werden kann. Sie ist der absolute "Stillstand des Seelen-Perpendikels". Sie ist - die Langeweile.

Spätestens jetzt wird es Zeit, der Zeit mit Aktionen, Petitionen, Demonstrationen oder Revolutionen den Marsch zu blasen.

Die Zeit des Stillstandes, auch "Ewigkeit" genannt

Und dann gibt es da noch die Zeit, die es eigentlich gar nicht gibt, aber eben deshalb geben sollte: Die Zeit, die man in homöopathischer Dosierung erahnt, wenn man in irgendeiner Sache völlig aufgeht und weder von ihrem Fließen, noch von ihrem Stocken berührt wird. Dies ist die Zeit der Abwesenheit von Zeit, die Zeit des Stillstandes, auch "Ewigkeit" genannt.

Ewigkeit ist selbstverständlich nicht Unendlichkeit. Unendliches besitzt eine Vergangenheit, in der es angefangen hat und eine Zukunft, in die es - angeblich - ohne Ende hineinläuft. Unendlichkeit dauert verdammt lange. Ewigkeit hingegen dauert überhaupt nicht, weil sie reine Gegenwart ist, oder wie sie Ludwig Wittgenstein einmal bezeichnete, reine "Unzeitlichkeit".

"Auf die Frage nach dem Tun der Zeit bei ihrem unmittelbaren, gegenwärtigen Vergehen könnte man antworten: Sie tanzt. Und zwar auf des Messer Schneide zwischen Zukunft und Vergangenheit. Optische Eindrücke müssen beim Menschen durchschnittlich mindestens 20 bis 30 Millisekunden auseinanderliegen, um als zeitlich getrennt wahrgenommen zu werden. Auf diesen 20 bis 30 Millisekunden tanzt die Zeit von der Zukunft in die Vergangenheit."

(Thomas Kernert)


18