Bayern 2 - radioTexte


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Zum 200. Geburtstag von H.D. Thoreau Plädoyer für heimische Natur: "Wilde Früchte"

Er verbrachte fast sein ganzes Leben an einem abgeschiedenen Fleckchen Natur in Massachusetts und doch ist er bis heute weltweit präsent: Naturfreunde, Aktivisten und Anarchisten beziehen sich auf Henry David Thoreau, den Einsiedler, Nonkonformist und Philosoph des 19. Jahrhunderts, der mit "Walden" und "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" amerikanische Literaturgeschichte schrieb. Sein Spätwerk "Wilde Früchte" ist zugleich kenntnisreiche Studie und umfangreiche Liebeserklärung an die heimische Natur.

Von: Kirsten Böttcher

Stand: 20.06.2017 | Archiv

Illutrationen von Sonia Schadwinkel  | Bild: Manesse/Sonia Schadwinkel

"Mr. Thoreau war gestern Abend bei uns zum Dinner. Er ist ein einzigartiger Charakter, in dem noch viel wilde, originale Natur verblieben ist. Er ist ein eifriger und feinfühliger Naturbeobachter, und die Natur scheint ihn im Gegenzug für seine Liebe als ihr besonderes Kind zu adoptieren und zeigt ihm Geheimnisse, die wenig andere erspähen dürfen."

(Nathaniel Hawthorne, Eintrag in seinem Tagebuch von 1842)

Eine treffende (und höfliche) Charakterisierung aus der Feder des berühmten Romanciers Nathaniel Hawthorne über den damals 25-jährigen Querdenker Henry David Thoreau: Der junge Mann mit der "wilden, originalen Natur" hatte zu dem Zeitpunkt bereits seine kurze Lehrerkarriere an den Nagel gehängt, da er sich nicht mit den damals üblichen körperlichen Züchtigungen der Schüler arrangieren wollte.

Walden Pond in Concord / Massachusetts

Ein Jahr zuvor, 1841, hatte er mit dem Begründer des Transzendentalismus, Ralph Waldo Emerson, und Hawthorne Freundschaft geschlossen und zog sich einige Jahre später bewusst von der Industriegesellschaft zurück, die nach Thoreaus Meinung die Menschen zu "Konsummaschinen" reduziere. Ab 1845 lebte er über zwei Jahre lang in selbst verordneter Einfachheit in einer eigens gezimmerten Blockhütte am Walden Pond in Neuengland, einem Fleckchen unberührter Natur, das Emerson gehörte.

"Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde."

(Walden oder Leben in den Wäldern, Henry David Thoreau)

Henry David Thoreau: Kultautor, Vorreiter, Ideengeber

Inspiriert von den Schriften Thoreaus: Mahatma Gandhi

Sein Werk "Walden; or, Life in the Woods" (1854), das heute zu den Klassikern der amerikanischen Literatur zählt und zum Kultbuch vieler alternativer Lebensformen avancierte, ließ Thoreau zum Vordenker der Naturschutzbewegung werden, inspirierte Mahatma Gandhi zu dessen asketischer Lebensführung und - zusammen mit Thoreaus zweitem bekannten Werk „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849) - zum Konzept des gewaltlosen Widerstands.

"Ich bin nicht für den Zwang geboren. Ich werde nach meiner Art atmen."

(Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, H.D. Thoreau)

In jenem Essay argumentiert der einsamkeitsliebende Exzentriker für das Recht auf zivilen Ungehorsam im Falle eines Konflikts mit den eigenen Wertevorstellungen, wehrt sich gegen Sklaverei- und Eroberungspolitik. Kein Wunder also, dass Thoreau beispielsweise hundert Jahre später in Martin Luther King einen aufmerksamen Leser finden sollte.

Einzigartiges Kompendium zu heimischen Früchten

"Zum eigenen Landstrich verhalten wir uns meist noch wie der Seefahrer zu unentdeckten Inseln im Ozean."

(H.D. Thoreau)

Neben Thoreau, dem Nonkonformisten und politischen Zivilisationskritiker, existierte jedoch immer auch der andere Thoreau, der feinsinnige und belesene Naturliebhaber. Seine Studie über die wilden Früchte seiner Heimat blieb unvollendet - Thoreau starb zuvor an Tuberkulose im Jahr 1862 - und auch lange unpubliziert. Seine umfangreichen Aufzeichnungen umfassten nicht weniger als 182 botanische Arten und Unterarten, von den Nussfrüchten der Ulmen Anfang Mai bis zum Wacholder im darauffolgenden März.

Seine Beobachtungen ergänzte er in einzigartiger Weise durch poetische, sinnliche Momentaufnahmen, ästhetische Überlegungen und literaturgeschichtliche Hinweise. Dieses Spätwerk erschien erst 2012 auf Deutsch, "Wilde Früchte", ein prall gefülltes Kompendium und ein 320-Seiten langes Plädoyer für ein harmonisches Leben mit - und mitten in - der Natur. Das lässt Thoreau so aktuell, so zeitlos bleiben. Die liebevoll gestaltete Buchausgabe, herausgegeben von Badley P. Dean, aus dem Englischen von Uda Strätling übertragen und von Sonia Schadwinkel mit vielen Zeichnungen versehen, ist im Manesse Verlag erschienen.

"Der Wert wildwachsender Früchte liegt nicht im Besitz oder Genuss, sondern bereits im Anblick und in der Freude, die sie bereiten."

(Wilde Früchte, Henry David Thoreau)

radioTexte am Dienstag, 27.06.2017, 21.05 Uhr

"Wilde Früchte"
Von Henry David Thoreau
Mit Heiko Ruprecht, Marina Marosch und Frank Manhold
Redaktion und Moderation: Antonio Pellegrino

Nächste Woche steht ebenfalls ein Text von H. D. Thoreau auf dem Programm:
"Ktaadn" gelesen von Heiko Rupprecht in den radioTexten am 04.07.2017, 21.05 Uhr


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