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Lepra-Kolonie Kalaupapa in Hawaii Wie ein Paradies zur Hölle wurde

Unzugänglich, wunderschön aber mit dunkler Vergangenheit: Auf der Kalaupapa-Halbinsel wurden jahrzehntelang Lepra-Kranke Hawaiianer zwangsweise vom Rest der Welt isoliert. Noch heute kommt man nur sehr schwer dort hin.

Von: Till Ottlitz

Stand: 21.07.2016

Blick auf die Halbinsel Kalaupapa | Bild: BR/Till Ottlitz

Moloka’i ist eine von den kleineren hawaiianischen Inseln. Nur knapp 8000 Leute leben dort, dazu kommen noch mal 1000 Touristen - aber das ist wenig im Vergleich zu den anderen, überlaufenen Inseln. Moloka’is Motto lautet denn auch “die freundliche Insel”. Wie fast jeder Besucher, der nach Moloka’i kommt, fahre ich als erstes zu einem der schönsten Aussichtspunkte der Insel: zum Kalaupapa Overlook. Von hier aus sieht man fast die gesamte Nordküste von Molokai: 22 Kilometer Küste mit teilweise bis zu 1000 Meter hohen Klippen - nach manchen Berechnungen die höchsten Seeklippen der Welt. Hier gibt es keine Straße, kaum Menschen. Die Küste ist völlig unzugänglich, schroff und abweisend - bis auf ein kleinen Flecken. Die Kalaupapa-Halbinsel.

Jahrzehntelang wurden dort Menschen ausgesetzt, die an Lepra erkrankt waren. Die Kranken wurden von ihren Familien getrennt, unter Zwang nach Kalaupapa gebracht und dort mehr oder minder sich selbst überlassen - zumindest in den ersten Jahrzehnten der Lepra-Kolonie. Was von hier oben aussieht wie ein kleines Tropen-Paradies wurde für die Bewohner zur Hölle.

Diese Geschichte hat mich fasziniert. Deshalb will ich unbedingt da runter. Aber das ist gar nicht so leicht. Wer nach Kalaupapa will, braucht einen Passierschein von Hawaiis Gesundheitsbehörede und dem Nationalpark und hat im Grunde nur drei Möglichkeiten: mit dem Flugzeug (extrem teuer), zu Fuß wandern (extrem anstrengend) oder sich von einem Maultier tragen lassen. Ich entscheide mich für die Maultiere.

Diese Geschichte hat mich fasziniert. Deshalb will ich unbedingt da runter. Aber das ist gar nicht so leicht. Wer nach Kalaupapa will, braucht einen Passierschein von Hawaiis Gesundheitsbehörede und dem Nationalpark und hat im Grunde nur drei Möglichkeiten: mit dem Flugzeug (extrem teuer), zu Fuß wandern (extrem anstrengend) oder sich von einem Maultier tragen lassen. Ich entscheide mich für die Maultiere.

Maultiere auf Autopilot

Und so stehe ich am nächsten Tag um sieben Uhr morgens vor einem Stall, der aussieht wie aus einem alten Western-Film. Außer mir sind noch zwölf andere Besucher in der Gruppe. Wir schauen zu wie ein paar Mule Skinner, so heißen hier die Maultiertreiber, die Mulis aus dem Stall holen. Sali, der Chef der Mule Skinner, erklärt uns, dass Maultiere im Grunde so funktionieren wie Autos: Zügel anziehen zum Stoppen, kleiner Tritt für den Vorwärtsgang. “Aber eigentlich laufen die Mulis Auto-Pilot. Ihr müsst gar nicht viel tun”, beruhigt er uns. Ich bekomme ein rotbraunes Muli mit weißer Mähne und weißem Maul mit Namen Makani zugeteilt. Das ist hawaiianisch und bedeutet “Wind”.

Sali erklärt uns noch, was wir jetzt vor uns haben: 520 Höhenmeter geht es runter in 26 Spitzkehren, 5 Kilometer ist der Weg lang. Und dann geht es auch schon los. Anderthalb Stunden quälen sich die Mulis den steinigen, engen Pfad hinunter - immer zwischen Fels und Abgrund. Dabei schauen sie immer ganz genau, bevor sie ihre Hufe setzen. Während ich mich an den steilen Stellen ganz schon festhalten muss, damit es mich nicht aus dem Sattel hebt. Unten angekommen müssen wir noch ein Stück Küste entlangreiten - wo sich riesige Wellen auf rundgewaschenen, schwarzen Brocken aus Vulkangestein brechen.

Auf Kalaupapa leben immer noch Lepra-Patienten

Wir lassen die Mulis bei den Mule Skinners auf einer Weide zurück und die ganze Gruppe steigt in einen typisch amerikanischen, gelben Schulbuss, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Unser Tourguide heißt Norman und ist auch nicht mehr der Jüngste. Während er uns Richtung Kalaupapa Dorf fährt, erklärt Norman, dass heute auf Kalaupapa cirka hundert Menschen leben: “40 arbeiten für das hawaiianische Gesundheits-Ministerium, 45 für den Nationalpark 14 sind ehemalige Patienten.” Ein Drittel der Patienten lebt aber die meiste Zeit auf Ohau, weil sie besondere Pflege brauchen. “Die anderen leben hier im Dorf, jeder in seinem eigenen Haus. Inzwischen sind sie 75 bis 90 Jahre alt”, erzählt Norman.

Seit 1949 wird zwar niemand mehr zwangsweise hier eingewiesen. Seit der Entdeckung spezieller Antibiotika in den 1940er Jahren ist Lepra heilbar. Aber die Patienten, die heute noch auf Kalaupapa sind, wurden schon vorher, oft noch als Kinder, eingewiesen und haben sich entschlossen zu bleiben. Viele fühlten sich nach Jahren auf der Halbinsel einfach zuhause. Manche fürchteten vielleicht auch, woanders wie die sprichwörtlichen Aussätzigen behandelt zu werden. Auch wenn die Touren im Dorf sind, bleiben die Patienten in ihren Häusern. Verständlich, denn wer will schon von einer Tourgruppe in einem Schulbuss angegafft werden.

Ein verschlafenes Dorf in völliger Abgeschiedenheit

Unser erster Halt: Norman stoppt den Bus vor einer kleinen Bretterbude mit Blechdach und abblätternder Farbe, einem kleinen Laden. Doch bevor wir aussteigen dürfen warnt er noch, dass wir aufpassen sollen beim Überqueren der Straße. “Lepra beeinträchtigt die Sehstärke der Patienten. Und viele der alten Patienten fahren noch AUTO hier in Kalaupapa”, sagt er halb im Scherz. Denn eigentlich ist im Dorf nicht viel los. Die ganze Zeit sehe ich außer unserem Bus nur ein anderes Auto.

Die Szene verströmt verschlafenen Kleinstadt-Charme: Verstreut im Grünen stehen typisch hawaiianische Holzhäuser mit Verandahs, es gibt eine Kirche und ein paar Sportplätze. Inmitten dieser Idylle kann ich mir nur schwer vorstellen, wie hart das Leben hier früher für die Lepra-Patienten war. Dafür muss man sich in der Zeit zurückversetzen:

Hölle auf Erden - die ersten Jahre der Lepra-Kolonie

1866 werden die ersten Lepra-Kranken nach Kalaupapa gebracht. Damals ist das Königreich Hawaii noch ein unabhängiger Staat. Aber seit dem James Cook neunzig Jahre zuvor als erster Europäer auf den Inseln gelandet ist, sind fünf von sechs Hawaiianern an eingeschleppten Krankheiten gestorben. Und jetzt breitet sich dazu noch eine Krankheit aus, die bis dahin Hawaii unbekannt war: Lepra.

Die zumeist weißen Besitzer der Zuckerrohr-Plantagen auf Hawaii fürchten, dass sich die Krankheit unter ihren Arbeitern ausbreitet, und machen deshalb Druck auf das Parlament in Honolulu. Das verabschiedet eine drastische Lösung für das Problem: komplette Isolation. Wer Symptome von Lepra zeigt, der wird festgenommen, von seiner Familie und seinen Freunden getrennt, zuerst in Quarantäne gesteckt und nach Kalaupapa verschifft.

Besonders für die ersten Ankömmlinge ist das Leben sehr hart. Im Januar 1867 besucht ein Reporter des “Pacific Commercial Advertisers” aus Honolulu die Halbinsel. Er ist schockiert über die Zustände dort: “Menschen in allen Stadien der Krankheit werden zusammen geworfen - ohne Medizin, ohne Arzt, ohne Trost, nur mit dem absolut Lebensnotwendigem ausgestattet und dazu noch auf Hunger-Rationen”.

Der letzte Halt auf unserer Tour ist eine Bucht, in der die Patienten am Anfang der Kolonie an Land kamen. Es wird oft erzählt, dass Patienten hier ins Wasser gestoßen wurden und an Land schwimmen mussten. Aber Norman meint, das passierte nur, “wenn Wetter und Seegang es nicht anders zuließen oder wenn Patienten nicht herkommen wollten und sich weigerten, das Schiff zu verlassen”. Die meisten Patienten kamen aber wohl per Boot an Land.

Nach Kalaupapa zu kommen, war ein Todesurteil

Aber selbst wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, wurde alles nur schlimmer. Denn das Board of Health, das sich eigentlich um die Kolonie kümmern sollte, hatte noch nicht einmal Unterkünfte gebaut. Die Kranken mussten in Höhlen  oder alten Grashütten Unterschlupf finden. Ein Todesurteil, erklärt Norman.

Hier unterhalb der Felsen fallen zweieinhalb Meter Regen im Jahr. Wer Lepra hat, stirbt nicht daran, sondern wird anfällig für andere Krankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose. Und weil die Patienten mit solchen Lungenkrankheiten noch dazu in diesen feuchten, kalten Hütten leben mussten, “starben viele von ihnen kurz nach Ankunft oder schon nach ein, zwei Jahren”, erzählt Norman.

Getrennt von Familie und Freunden

Egal wie hart die Lebensumstände auch waren, für die meisten Patienten war es am schlimmsten, von ihrer Familie und ihren Freunden getrennt zu sein. Denn für die hawaiianischen Ureinwohner ist “ohana” einer der wichtigsten Werte im Leben - der Zusammenhalt in der Familie. Es gibt Geschichten von Ehemännern, die ihre erkrankten Frauen nicht verlassen wollten, ihnen nach Kalaupapa folgten und später selbst an Lepra erkrankten. Und man erzählt sich von Kindern, die dafür beteten, auch Lepra zu bekommen, damit sie ihren Eltern folgen durften.

Der erste echte Helfer: Father Damien

Der erste, der die Situatio auf Kalaupapa wirklich verbessert hat, war ein katholischer Missionar aus Belgien: Father Damien. Damien kam sieben Jahre nach den ersten Patienten nach Kalaupapa. Als erstes baute er Häuser für die Patienten und holte sie aus ihren feuchten Hütten, dann folgte eine kleine Kirche und ein Krankenhaus.

Das Besondere an Damien war: Andere Helfer waren immer nur für kurze Zeit nach Kalaupapa gekommen. Aber Father Damien blieb und arbeitete so  lange unter den Patienten, bis er selbst an Lepra erkrankte und starb. 1898 wurde Hawaii dann von den USA annektiert und wenige Jahre später investierte dann der US-Kongress 100.000 Dollar in ein modernes Krankenhaus. Aber noch über Jahrzehnte wurden Lepra-Kranke zwangsweise nach Kalaupapa gebracht. Formell abgeschafft wurden die Isolationsgesetze sogar erst 1969.

Wie geht es weiter mit Kalaupapa?

Am Schluss der Tour hat Norman noch ein wichtiges Anliegen: Derzeit ist völlig unklar, was mit Kalaupapa passiert, wenn die letzten Patienten gestorben sind. Es gebe mächtige Stimmen, die Kalaupapa in ein Touristen-Resort verwandeln wollen, erzählt er. “Nichts gegen Resorts! Aber die meisten, die mal hier waren, sind sich einig, dass das nicht zu Kalaupapa passt”, sagt Norman schon fast beschwörend. Viele in der Gruppe nicken zustimmend. Die Tour hat uns nachdenklich gemacht. Und viel Zeit zum Nachdenken haben wir auch - im Sattel auf dem Maultierpfad zurück nach oben.

Alle Beiträge zur Sendung:

  • Lepra-Kolonie Kalaupapa in Hawaii. Von Till Ottlitz
  • Namibia - deutsches Erbe. Von Mechthild Müser
  • Sri Lanka - Schatten des Krieges. Von Patrizia Schlosser

Die Songs der Sendung

  • Jack Johnson - Flake
  • Elemotho - Kgala Namib

Moderation: Bärbel Wossagk

Die komplette Sendung ist im Download-Center nachzuhören.


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