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Jahrhundertsaga "Drach" von Szczepan Twardoch

"JestemŚlązakiem -  ich bin Schlesier", sagt Szczepan Twardoch im Brustton der Überzeugung von sich. Das stellt in Polen nach wie vor eine provokative Aussage dar. Sein neuer Roman "Drach" eröffnet einen mitleidlosen Blick auf seine Heimat.

Von: Katrin Hillgruber

Stand: 06.07.2016

 Szczepan Twardoch  | Bild: picture-alliance/dpa

Der 36-jährige literarische Shootingstar und Markenbotschafter einer großen schwäbischen Autofirma pflegt seinen Ruf als konservativer Exzentriker. Szczepan Twardoch ist stolz darauf, wie seine Vorfahren in der oberschlesischen Kleinstadt Pilchowice zu wohnen, allerdings in einem modernen Architektenhaus. Der deutsche Name von Pilchowice lautet Pilchowitz, doch das klang im Dritten Reich zu slawisch, so dass das Städtchen von 1936 bis `45 in Bilchengrund umgetauft wurde. Das ist noch eines der harmlosesten deutsch-polnischen Wechselbäder, das Twardoch in seiner Jahrhundertsaga "Drach" schildert. Woher rührt sein Interesse an historischen Themen?

Die Vergangenheit: Twardochs Weg in die Gegenwart

"Über Geschichte beziehungsweise die Vergangenheit zu schreiben ist für mich ein Mittel, um etwas über unsere heutige Welt zu erfahren. Denn aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass das Gegenwärtige für uns verborgen ist – für mich jedenfalls. Ich kann es nicht direkt berühren. Und so muss ich einen Weg um diesen Vorhang herum finden, und dieser Weg führt in die Vergangenheit. Ich blicke von der Vergangenheit aus auf die Gegenwart."

Szczepan Twardoch im Diwan 

Nach seinem kühnen und politisch inkorrekten Roman "Morphin", der im deutsch besetzten Warschau des Herbstes 1939 spielt, nimmt Twardoch nun Oberschlesien vom Mittelalter bis ins Jahr 2014 in den Blick. Zu diesem Zeitpunkt steckt der preisgekrönte Architekt Nikodem Gemander in einer tiefen Lebenskrise, da ihn Ehefrau und Freundin verlassen haben. Der Mittdreißiger Nikodem, ein Zweifler und Nihilist, ist der Urenkel von Josef Magnor, der eigentlichen Hauptfigur des weitverzweigten Familienpanoramas. Inspiriert zu diesem flächigen Erzählen, das munter durch die Jahrhundert springt, hat den Autor nach eigenen Angaben das Schicksal seiner Urgroßväter. Ob polnisch- oder deutschsprachig: Sie dienten in der preußischen und später deutschen Armee und wurden vor allem durch die Verheerungen des Ersten Weltkriegs in ihrem Weltbild erschüttert. Als Hüterin dieses bitteren Erfahrungsschatzes und als höchst ungewöhnliche Erzählinstanz für seinen Roman wählt sich Szczepan Twardoch die schlesische Erde.  

"Ich wollte auf eine bestimmte Art und Weise Schlesien selbst zu Wort kommen lassen, ich wollte von unserer jüngsten Geschichte berichten, die so ganz anders als die Polens ist. Damit meine ich nicht die große Geschichte der Kriege, sondern die der Familien. Schlesische Familien haben die Geschichte ganz anders erlebt als polnische. Und diese Erlebnisse, unsere Erlebnisse, wurden in Polen nie dargestellt. Deshalb konnten wir uns in dem großen nationalen Narrativ auch nicht wiederfinden [...], da wir nicht Teil des Prozesses waren, der zum polnischen Staat in seiner heutigen Form geführt hat. Und ich habe einen inneren Drang verspürt, darüber zu sprechen und zu schreiben."

Szczepan Twardoch im Diwan

In "Drach" spricht die schlesische Erde

"Drach", das ist die von Bergbau und Weltkriegen geschundene oberschlesische Erde. Sie wird zum Drachen, der die Jahrhunderte mitleidlos überblickt. "Er ist voll von Schwärze", heißt es über den Untertage-Tischler Josef Magnor, der sich weder als Pole noch als Deutscher fühlt. Im Juni 1918 begegnet der proletarische Kriegsheimkehrer auf der Gleiwitzer Kirmes der frühreifen Caroline Ebersbach. Die 14-Jährige aus besseren Kreisen ist da bereits von ihrem ruchlosen Zeichenlehrer entjungfert worden, wovon ihre Eltern nichts ahnen. Zwischen Josef und Caroline nimmt eine schicksalshafte verbotene Liebe ihren Lauf, an deren Ende ein Mord steht. Doch auch die sterblichen Überreste dieses Liebespaares wird die Erde mitleidlos verschlingen und verstofflichen – ein fatalistischer Kreislauf, der das ganze Buch grundiert und ihm beträchtliche Erdenschwere verleiht.

"Die Wahrheit ist, dass Schlesien von Hass erfüllt war. Da gab es nicht nur Animositäten zwischen den Volksgruppen, sondern vor allem den Klassenhass. Denn die Menschen haben sich nicht nur durch ihre jeweilige Muttersprache voneinander unterschieden, sondern auch durch den Besitz. Die deutschsprachige Bevölkerung war wohlhabend, ihr gehörten die Minen, die slawischsprachige Bevölkerung dagegen war arm und arbeitete in den Minen. […] Es gibt also keine nette, gemütliche Geschichte darüber zu erzählen, wie wir alle harmonisch und glücklich zusammengelebt haben."

Szczepan Twardoch im Diwan

Der Erste Weltkrieg - das Trauma der Schlesier

Szczepan Twardoch beklagt, dass sich das offizielle Polen nur für den Zweiten Weltkrieg interessiere, während für Schlesien der Erste gravierender gewesen sei. Nach dessen Ende entstand die Polnische Militärorganisaton von Oberschlesien POW, und 1922 wurde das Land zwischen Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik aufgeteilt. Gela Magnor durchlebt als Tochter eines Aufständischen die ganze Zerrissenheit zwischen den nationalen Identitäten. Vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte erscheint es ihrem Enkel Nikodem unpassend, heutzutage unglücklich zu sein. Mit dieser Figur des ebenso bedrückten wie selbstgefälligen Stararchitekten und PS-Liebhabers hat sich der Autor augenzwinkernd ein alter Ego erschaffen.

"Als Schlesien zwischen Polen und Deutschland geteilt wurde, begann auf beiden Seiten der Grenze ein architektonischer Wettbewerb – wer baut mehr, wer baut besser? Mich hingegen interessiert der Architekt als Charakter, als Person. Ich fühle mich vom Ego des Architekten angezogen, denn man muss ein sehr großes Ego haben, um etwas Riesiges zu bauen, das mindestens zweihundert Jahre Bestand hat. Der Architekt setzt seine Marke in die Landschaft und das Leben anderer Menschen. Und dafür muss man sich seiner selbst und seiner Taten sehr sicher sein. […] Ich wollte den Architekten als menschliches Wesen zeigen und auch, welchen Preis er für dieses große Ego zahlen muss."

 Szczepan Twardoch im Diwan  

Von der Anziehungskraft des Unglücks

Auch für Nikodem Gemander geht es schlecht aus, unweit der psychiatrischen Anstalt, in der sein Urgroßvater Josef Magnor als schutzloser Patient das Inferno des Zweiten Weltkriegs erlebte – eine der intensivsten Passagen des Buches. Mit allergrößter erzählerischer Raffinesse gelingt es Szczepan Twardoch, all diese Ereignisse zeitlich gleichzuschalten und gleich stark zu gewichten. Sein Übersetzer Olaf Kühl wiederum hat das Kunststück vollbracht, die oberschlesischen Passagen des Originals, mit denen Twardoch polnische Leser gezielt verwirren wollte, ins Niederschlesische zu übersetzen – diese Mundart ist dem Deutschen näher. Dadurch wurden alle Sprachnuancen von "Drach" bewahrt, dieser gewaltigen Moritat von der Anziehungskraft des Unglücks.

Diwan

Szczepan Twardoch: Drach. Roman.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin Verlag 2016. 416 Seiten.

Katrin Hillgruber hat den Roman für den Diwan gelesen. Ihr Beitrag läuft Samstag, 9. Juli, 14:05 Uhr auf Bayern 2. (Wiederholung 21:05 Uhr)


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