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Delphine de Vigan "Nach einer wahren Geschichte."

"Beim Anblick eines Blocks, eines Hefts oder einer Briefkarte wurde mir übel", erinnert Delphine, die Protagonistin von Delphin de Vigans neuem Roman, zu Beginn. Darin treibt sie ein virtuoses Spiel mit der Sehnsucht von Lesern nach einer wirklich „wahren“ Geschichte, in dem sie ihre Leser immer wieder in die Irre führt.

Von: Astrid Mayerle

Stand: 17.08.2016

Delphine de Vigan | Bild: picture-alliance/dpa

Delphine befindet sich in einem Ausnahmezustand, in einer für eine Schriftstellerin existenziellen Situation: Sie leidet an einer Schreibblockade. Der geplante Roman kreist um eine Reality Show im Fernsehen, bei der Menschen 24 Stunden lang darum kämpfen, sich die lebensnotwendigsten Dinge zu beschaffen. Eine Art Überlebenstraining vor laufender Kamera.

"... seit einigen Wochen hatte ich eine weibliche Figur im Kopf, über die ich reichlich Notizen gemacht hatte (ich hatte sie auf die erste Seite des Hefts gezeichnet, das ich stets in der Handtasche dabeihatte). Meine künftige Heldin war der Star einer Sendung mit großer Einschaltquote, eine Frau von fünfundzwanzig Jahren, durch und durch künstlich, von allen angehimmelt und immer im Vordergrund."

Delphine de Vigan in Nach einer wahren Geschichte

Autobiografie statt Fiktion!

Delphines Freundin jedoch - im Roman nur kurz L. genannt -, lehnt diese Idee vehement ab und rät ihr, keine fiktive Geschichte zu schreiben, sondern besser aus dem eigenen Leben zu schöpfen. - Möglicherweise ein Wunsch, den L. für ihr eigenes Schreiben hegt, denn sie ist die Ghostwriterin hinter den Autobiografien bekannter Stars. Hier wie in vielen anderen Szenen entpuppt sich Delphine de Vigan als Meisterin delikater Anspielungen und Doppeldeutigkeiten. So unterschiedlich die beiden Freundinnen auch sind, eines verbindet sie: sich ganz und gar in der Person des anderen zu spiegeln oder in ihr aufzugehen. Als Delphine erkrankt, lässt sie es zu, dass L. Briefe der Hausverwaltung, ihrer Freunde, Familienmitglieder, ja, sogar ihrer Verlegerin beantwortet und damit gleichsam zur Ghostwriterin ihrer privaten Korrespondenz wird. Im Lauf der Geschichte, in der der zu schreibende Roman mehr und mehr aus dem Blickfeld gerät, scheint sich L. völlig in das Leben ihrer Freundin einzuschreiben. Delphine bemerkt:

"Während ich mich vor ihren Augen aller Substanz entleerte, verbrachte sie ihre Zeit mit Arbeiten, kam und ging, fuhr mit der Metro, kochte. Wenn ich sie beobachtete, hatte ich manchmal den Eindruck, mir selbst zuzusehen oder eher einem Double von mir, neu erfunden, stärker, mächtiger und aufgeladen mit positiver Energie. Von mir jedoch würde bald nur noch eine ausgetrocknete, tote Haut übrig sein, eine leere Hülle."

Delphine de Vigan in Nach einer wahren GeschichteVerstrickungen einer abgründigen Freundschaft

Dass sich die Geschichte zu einem Psychothriller entwickeln wird, deuten bereits die Steven-King-Zitate vor den Kapiteln an. Doch der Roman beschreibt nicht nur, wohin die Verstrickungen dieser abgründigen Freundschaft führen, er hinterfragt auch mit dem Zustand des Nichtmehrschreibenkönnens das Schreiben selbst: Was bringt einen Autor dazu, Geschichten zu erzählen, in welchem Verhältnis steht er zu seinen Lesern, hat er die Verpflichtung, den Erwartungen seines Publikums gerecht zu werden? Warum entstehen Bücher und: warum lesen wir überhaupt?

Der Autor als Therapeut?

Diese Fragen drängen auf, als Delphine auf einer Buchmesse in Paris über die Leserbriefe und Reaktionen ihres Publikums nachdenkt: Menschen mit ganz unterschiedlichen psychischen Erkrankungen dankten Delphine: Ihre Romane hätten sie geheilt. Der Autor als Therapeut. Doch Delpine empfindet keine Bestätigung. Eine Signierstunde bringt sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs:

"Ich konnte nicht sagen: Madame, es tut mir leid, ich schaffe es nicht mehr, ich bin müde, ich bin nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt, ich habe nicht das Format, so ist es eben, [...] ich kann meinen Namen nicht mehr schreiben, mein Name ist Hochstapelei, ein Schwindel, glauben Sie mir, mein Name in diesem Buch ist nicht mehr wert als ein zufällig auf dem Vorsatzpapier gelandeter Taubenschiss."

Delphine de Vigan in Nach einer wahren Geschichte

Verwirrspiel mit den Realitätsebenen

In dem Maße, wie L. im Lauf des Romans an Charakter, persönlicher Geschichte und an Individualität zu gewinnen scheint, verliert Delphine dies alles. Doch auch das gilt nur vorläufig. Der Titel des Romans "Nach einer wahren Geschichte" beginnt immer mehr zu schillern. Was ist real, biografisch fundiert, was fiktiv? Wahr ist: Delphin de Vigan hat 2011 ein Buch über ihre Familiengeschichte veröffentlicht und sie hat - wie L. später im Roman - ihren ersten Roman unter anderem Namen herausgebracht - als Lou Delvig. Doch es geht nicht um Tatsachen, sondern um ein virtuoses Spiel mit der Sehnsucht von Lesern nach einer wirklich "wahren" Geschichte. Die immense Spannung des Romans besteht darin, dass es der Autorin immer wieder gelingt, den Leser völlig in die Irre zu führen. Wenn immer er glaubt, etwas Wichtiges verstanden zu haben, ändert sich die Perspektive und sogar das Verhältnis der Figuren kippt. So auch noch einmal radikal zuletzt.

Große Erzählkunst

Delphine de Vigan liefert mit diesem Roman ein persönliches Manifest, indem sie feststellt: Es geht nicht darum, ob eine Geschichte wahr oder frei erfunden ist, es geht nicht einmal darum, wer sie geschrieben hat, sondern darum, wie sie erzählt wird. Genau. Auch für dieses Buch der in Frankreich längst gefeierten und vielfach ausgezeichneten Autorin gilt: Ganz große Erzählkunst!

Diwan

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte.

Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann.
DuMont, 352 Seiten 23 Euro


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