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Diwan von der Buchmesse Mit Katja Lange-Müller, Teresa Präauer, Arnon Grünberg und Timothy Garton Ash

Eine unter "Soziophobie" leidende Frau, deren Koffer abhanden kommt, ein Mann, der sich zum Affen macht, ein kinderloser, geschiedener Psychiater, der wieder bei seiner Mutter einzieht und Rede-Prinzipien für unsere vernetzte Welt: Darum geht's im Diwan von der Frankfurter Buchmesse.

Stand: 17.10.2016

Erlanger Poetenfest 2017, Polaroidfoto mit Teresa Präauer, Arnon Grünberg, Katja Lange-Müller und Timothy Garton Ash | Bild: picture-alliance/dpa, Montage: BR

Die politischen Konflikte außerhalb Europas rücken immer näher, heftige Auseinandersetzungen, bei denen verbale Ausrutscher zur Regel gehören, bestimmen unseren Diskurs und sind ein Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt. Niels Beintker und Knut Cordsen sprechen auf dem Diwan mit dem Historiker Timothy Garton Ash, der in "Redefreiheit" zeigt, dass wir "Prinzipien für unsere vernetzte Welt" nötig haben. Auch ein Vertreter des Gastlands ist heuer zu Gast: Arnon Grünberg bringt seinen Roman "Muttermale" zum Diwan mit. Außerdem stellt Katja Lange-Müller ihren Roman "Drehtür" vor und die Künstlerin und bekennende "Anti-Inhaltistin" Teresa Präauer ihr Buch "Oh Schimmi".

Katja Lange-Müller: "Drehtür"

Asta Arnold ist am Ende. Gerade ist sie auf dem Münchner Flughafen zwischengelandet, ihr Koffer ist verloren gegangen, sie weiß nicht wohin, hat kein Bargeld, spricht nicht, weil sie unter "Soziophobie" und "Logophobie" leidet. Ihre Nikotingier treibt sie nach draußen, neben einer Drehtür zündet sie sich eine Zigarette nach der anderen an. Von diesem Posten aus beobachtet sie rauchend das Geschehen - und wird von diesem oder jenem Passanten an Begegnungen und Personen aus ihrem eigenen Leben erinnert. Das Helfen als Beruf und Berufung ist ein Hintergrundmotiv dieser Erinnerungen, und es wird natürlich auch in seiner Dialektik von Macht und Ohnmacht, in seinem Scheitern gezeigt.

Die Berlinerin Katja Lange-Müller, geboren 1951 im Osten der Stadt, hält in ihrer Prosa eine spezielle Balance zwischen psychologischer Feinarbeit und einer Art menschenfreundlicher Schnoddrigkeit in Ton und Wortwahl. Das ist auch in ihrem neuen Roman "Drehtür" nicht anders, mit dem Lange-Müller auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand.

Teresa Präauer

"Oh Schimmmi", nein, damit ist nicht der coole Schimanski gemeint, sondern der Ich-Erzähler im neuen Roman von Teresa Präauer, der schließlich resümiert: "Alle Schicksale, soweit sie nicht auf Zufall gründen, bündeln sich in Schimmi." Schimmi ist eine durchgeknallte Spielart von Jimmy, ein etwas minderbemittelter - oder nicht? - , auf jeden Fall irgendwie beeinträchtigter, sexbesessener, junger Mann und hinreißender Unsympath, der sich buchstäblich zum Affen macht. Nicht nur, wenn er Ninni anbaggert, seine Angebetete.

Aber so genau kann man nicht sagen, wer Schimmi ist und was er bedeutet, denn die in Linz geborene Schriftstellerin und Bildende Künstlerin ist eine bekennende "Anti-Inhaltistin". Sie entwickelt ihren Stoff aus der Sprache, frei, virtuos, mit viel schrägem Humor, jeder Menge Slang und irrwitzigen Wortschöpfungen. In Klagenfurt hat Teresa Präauer 2015 mit dem um Ninni werbenden Schimmi beim Bachmann-Wettlesen für Aufsehen gesorgt. Auch die früheren Romane der Autorin, Jahrgang 1979 fanden viel Beachtung, "Johnny und Jean" ging 2014 ins Rennen für den Deutschen Buchpreis.

Arnon Grünberg: "Muttermale"

Der Psychiater Otto Kadoke rettet auf der Krisenstation einer Amsterdamer Klinik immer wieder lebensmüden Menschen das Leben, sein eigenes Leben aber bekommt der attraktive, geschiedene, kinderlose Mittvierziger nicht so recht in Griff. Er sieht sich gezwungen, wieder bei seiner pflegebedürftigen Mutter einzuziehen, weil er deren Pflegerin durch seine wilde Liebesattacke in die Flucht geschlagen hat. Aber seine Mutter, selbst hart im Nehmen - sie hat einige KZs überlebt - beschimpft ihn unablässig - der Sohn erträgt es stoisch, er versucht, das Geschimpfe als Sorge der liebenden Mutter zu verstehen.

Für "Muttermale" greift der 1971 in Amsterdam geborene Autor wie schon für seine früheren Romane wieder auf Selbstversuche und eigene Erfahrungen zurück. Bei mehreren Praktika in Psychiatriestationen begriff Grünberg die Grundlagen für eine professionelle Distanz zum Patienten und die Reserviertheit der Psychiater gegenüber der Psychoanalyse. "Wir sind alle die Fortsetzung von Traumata anderer Leute, Sie, ich - wir sollten aufhören zu glauben, dass es unsere eigenen sind, die uns in unerwarteten Momenten heimsuchen wie Geister", heißt es im Roman. Der enthält auch autobiografische Anklänge: Arnon Grünberg, der eigentlich in NYC lebt, zog eine Weile zurück nach Amsterdam, um das Sterben seine geliebten Mutter zu begleiten.

Timothy Garton Ash: "Redefreiheit"

"Ein globales Dorf " nannte Medienguru Marshall Mc Luhan unsere elektronisch kommunizierende Welt vor fast 55 Jahren. Timothy Garton Ash begreift unsere digital vernetzte Welt eher als globale Großstadt. Hier treffen, analog wie digital und anders als im Dorf, Fremde aufeinander, hier sind verschiedene Nationalitäten, Religionen, Lebensweisen versammelt und geraten zuweilen sogar gewaltsam aneinander. Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford, entwirft in seinem neuen umfassenden Buch Spielregeln für unseren Umgang miteinander in "Kosmopolis". Er plädiert für eine "Kultur offener Diskussion und robuster Zivilität", die nicht gleich die PC-Keule schwingt. Er befreit von Missverständnissen - etwa dem, dass der Meinungsfreiheit im Westen per Block Repressionen und Zensur in der Restwelt gegenüberstehen , - selbst im "Westen" existieren sehr verschiedene Standards in Punkto Meinungsfreiheit. Und er will die Redefreiheit von ihren ruinösen Auswüchsen, bei denen Krethi und Plethi alles von sich geben, was ihnen grade in den Sinn kommt (globaler Sprechdurchfall!), befreien und auf allen Ebenen der Auseinandersetzung zu mehr Redefreiheit mit besserer Qualität anregen.

Das Buch des 1955 geborenen Historikers ist aus dem breit angelegten internationalen Projekt freespeechdebate.com erwachsen, in dem Garton Ash mit Studenten und Wissenschaftlern aus aller Welt Prinzipien für den Umgang mit Whistleblowern, Netzmobbing, Zensur, Pornografie und Hate Speech erarbeitet.

Bücher auf dem Diwan der Frankfurter Buchmesse

"Redefreiheit"

Timothy Garton Ash
"Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt"
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer
688 Seiten
Carl HanserVerlag
28,00 Euro

"Muttermale"

Arnon Grünberg
"Muttermale"
Roman
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann u. Rainer Kersten,
228 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
24,00 Euro

"Drehtür"

Katja Lange-Müller
"Drehtür"
Roman
224 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
19,00 Euro

"Oh Schimmi"

Teresa Präauer
"Oh Schimmi"
Roman
204 Seiten
Wallstein Verlag
19,90 Euro

Diwan von der Frankfurter Buchmesse

Niels Beintker und Knut Cordsen sprechen in Frankfurt mit Katja Lange-Müller, Teresa Präauer, Arnon Grünberg und Timothy Garton Ash. Sie hören die Aufzeichnung
Samstag, 22. 10. 2016, 14:05 Uhr
(Wiederholung 22:05 Uhr)


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