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Missbrauchsskandal "Wir können keinen Schlussstrich ziehen"

2010 kam der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ins Rollen. Fünf Jahre später ist noch viel zu tun. 1500 Menschen haben Entschädigungszahlungen bei der Bischofskonferenz beantragt. Die Aufarbeitung geht weiter.

Stand: 30.01.2015 | Archiv

Symbolbild: Priesterkragen | Bild: picture-alliance/dpa

Es ist der 28. Januar 2010: Eigentlich berichtet eine Berliner Lokalzeitung nur über den Brief eines Jesuitenpaters. Der aber hat Sprengkraft. Er bringt den Missbrauchsskandal ins Rollen und stürzt die katholische Kirche in ganz Deutschland in eine Vertrauenskrise. In den deutschen Diözesen treten allein 2010 mehr als 180.000 Menschen aus der Kirche aus. Fünf Jahre später ist die Aufarbeitung längst nicht abgeschlossen.

Ein Brief löst eine Lawine aus

Bereits am 19. Januar schreibt der Jesuitenpater und damalige Rektor des Berliner Canisius-Kollegs Klaus Mertes an 600 ehemalige Schüler. Der Hintergrund: Patres des Ordens hätten in den 1970er und 80er Jahren Schüler sexuell missbraucht - und zwar systematisch und über Jahre. Dafür entschuldige er sich.

"Neben der Scham und der Erschütterung über das Ausmaß des Missbrauchs in jedem einzelnen Fall und in der Anhäufung müssen wir uns seitens des Kollegs die Aufgabe stellen, wie wir es verhindern können, heute durch Wegschauen wieder mitschuldig zu werden."

Klaus Mertes an ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs im Januar 2010

Der Skandal weitete sich auf andere Ordensschulen und katholische Einrichtungen aus, die Debatte betrifft bald auch evangelische Institutionen, weltliche Einrichtungen wie die Odenwaldschule, Sportvereine oder die Grünen.

Die Bischöfe reagieren

Im März 2010 entschuldigen sich die Bischöfe bei den Opfern. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wird zum Missbrauchsbeauftragten ernannt, eine Hotline für Missbrauchsopfer eingerichtet. Im Sommer erlassen die Bischöfe Leitlinien für den Umgang mit den Tätern, die 2013 verschärft werden. Darüber hinaus verabschieden sie ein Präventionskonzept.

Opfer werden außerdem mit bis zu 5.000 Euro für das Erlittene entschädigt. Opfervertreter kritisieren diese Summe als zu gering. Bei der Deutschen Bischofskonferenz sind seit 2010 insgesamt 1.500 Anträge dazu eingegangen. In 90 Prozent der Fälle sei eine Zahlung empfohlen worden, heißt es. Dass Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch 2011 fünf Missbrauchsopfer traf, wird als weiterer Schritt in Richtung Aufarbeitung angesehen.

Bayerische Bistümer gehen unterschiedlich mit dem Skandal um

Die bayerischen Bistümer gehen unterschiedlich mit den Missbrauchsfällen um. Manche veröffentlichen Zahlen und Daten im Netz, anderswo geht die Aufklärung nur schleppend voran. So die Kritik.

Die sieben bayerischen Bistümer

Vom Bistum Eichstätt etwa haben sechs Personen eine Anerkennungszahlung in Höhe von insgesamt 35.000 Euro bekommen. Die Diözese erhielt insgesamt acht Hinweise auf sexuellen Missbrauch oder Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Zeit von 1945 bis in die 90er Jahre. Fünf Anschuldigungen seien verjährt, in einem Fall sei es zu einer Verurteilung gekommen. Die 2013 gegen einen Diözesanpriester erhobenen Vorwürfe hätten sich als unbegründet erwiesen.

Im Bistum Würzburg haben inzwischen elf Personen, die als Minderjährige durch Priester oder andere kirchliche Mitarbeiter sexuell missbraucht worden sind, eine finanzielle Leistung erhalten. Insgesamt hat die Diözese 50.000 Euro "zur Anerkennung des Leids Betroffener" gezahlt. Seit 2010 sind inzwischen 93 Hinweise auf sexuellen Missbrauch und Grenzüberschreitungen eingegangen, die sich teilweise auf bereits verstorbene Priester beziehen, wie das Bistum Würzburg am 27. Januar 2015 bekannt gab. Im Erzbistum München-Freising haben 29 Menschen Anerkennungszahlungen erhalten, von denen 26 die Kriterien der Deutschen Bischofskonferenz erfüllt hätten. Im Erzbistum Bamberg weiß man derzeit von 15 Geistlichen und einem Ehrenamtlichen, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben. Die Fälle seien seit 2002 bekannt geworden, gehen bis in die 40er Jahre zurück und sind zum Teil verjährt. Strafrechtlich verurteilt wurde ein Priester, der nur vorübergehend im Erzbistum Bamberg tätig war. Insgesamt hat die Erzdiözese bislang 16 Entschädigungsfälle anerkannt, darunter neben Missbrauchsfällen auch Beleidigungen und Grenzverletzungen, die nicht strafrechtlich geahndet wurden. Insgesamt wurden nach Bistumsangaben Entschädigungen in Höhe von 92.000 Euro geleistet, davon 54.000 Euro durch die Beschuldigten.

In der Diözese Passau wurde bisher eine Person entschädigt, insgesamt gingen 29 Beschuldigungen ein. Drei Strafverfahren wurden durchgeführt, mit einer Verurteilung wegen Verbreitung pornografischer Schriften. Ein Verfahren wurde eingestellt, mit der Auflage an die Betroffenen einen Ausgleich in Geld zu leisten. Ein weiteres Verfahren fand in Polen statt, dessen Ausgang der Diözese Passau nicht bekannt ist. In der Diözese Augsburg haben sich 171 Personen gemeldet, die von körperlicher Gewalt und sittlicher Verfehlungen berichtet haben. 26 von ihnen wurde eine Entschädigung bezahlt. 15 Fälle wurden an die Staatswanwaltschaft weitergeleitet, aufgrund der Verfahren kam es zu drei Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs. Von 1945 bis heute wurden in der Diözese Regensburg 13 Geistliche wegen sexueller Straftaten an 77 Minderjährigen verurteilt. Davon zwei wegen Besitzes von kinderpornographischem Material und einer wegen sexueller Straftaten an 25 Minderjährigen in zwei Pfarreien Anfang der 50er Jahre. Von diesen 13 Geistlichen leben noch acht, zwei von diesen acht wurden laisiert, das heißt aus dem Klerikerstand entlassen, die übrigen sechs sind suspendiert. Ein kirchenrechtliches Verfahren - nach Feststellung der strafrechlichen Verjährung durch die Staatsanwaltschaft - läuft derzeit wegen einer Beschuldigung einer Tat in den frühen 1970er Jahren. Auch dieser Beschuldigte ist suspendiert.

Streit um die wissenschaftliche Aufarbeitung

Täter sind selten Pädophile

Norbert Leygraf

Eine vom Direktor des Essener Instituts für Forensische Psychiatrie, Norbert Leygraf, durchgeführte Studie kommt 2012 zu dem Schluss, dass Priester, die Minderjährige missbrauchen, in den seltensten Fällen pädophil seien. Die Taten würden zumeist vor dem Hintergrund einer persönlichen Krise begangen.

Krimonologe scheitert

Christian Pfeiffer, der Missbrauchsbeauftragte Bischof Stephan Ackermann und Norbert Leygraf

Ein zweites Forschungsprojekt wird zum PR-Desaster. Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer sollte 2011 durch Aktenstudien belastbare Zahlen zum Missbrauch erbringen, den Verlauf der Taten aus der Sicht der Opfer nachvollziehen, das Handeln der Täter analysieren und klären, wie sich die Kirche verhalten hat. Doch Anfang 2013 kündigen die Bischöfe die Zusammenarbeit auf. Das Vertrauensverhältnis zu Pfeiffer sei zerrüttet. Allerdings gibt es auch kirchenintern erhebliche Widerstände, weil der Wissenschaftler Einblick in möglichst viele Personalakten der 27 Bistümer erhalten sollte. Der mediengewandte Pfeiffer lässt sich das nicht bieten: Er spricht von Zensur und Aktenvernichtung. Zugleich lässt er allerdings durchblicken, dass er sexuellen Missbrauch in der Kirche für nicht weiter verbreitet hält als anderswo.

Zweiter Anlauf für Aufarbeitung

Harald Dreßing

Im Frühjahr 2014 nehmen die Bischöfe einen weiteren Anlauf und vergeben das Forschungsprojekt an einen Verbund von sieben Wissenschaftlern um den forensischen Psychiater Harald Dreßing. Beteiligt sind vier wissenschaftliche Einrichtungen. Im Oktober 2014 werden erste Interviews geführt. Die Forscher wollen mit 150 Missbrauchsopfern und 70 Tätern sprechen. Ergebnisse werden bis 2017 erwartet. "Es gibt sehr viel Bemühen, Strukturen zu verändern", kommentiert der Leiter der Abteilung für forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim die neuen Leitlinien der Bischofskonferenz zum Umgang mit Missbrauch sowie die Einsetzung von Präventionsbeauftragten und Ansprechpartnern für die Opfer.

 

Fünf Jahre nach Aufdeckung des Skandals zieht der ehemalige Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, eine vorsichtig optimistische Bilanz, warnt aber zugleich vor einem Schlussstrich. "Unmöglich ist Missbrauch leider nie", sagt er. "Ich bin aber sicher, dass Täter sich heute eher ungern auf unsere Schulen wagen würden."

Missbrauch in der katholischen Kirche


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