Bayern 2 - Hörspiel


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Michael Lentz Lesen heißt einverleiben

Stand: 14.06.2012

Uwe Dick und Michael Lentz | Bild: Wilfried Petzi

Literatur entsteht (auch) aus Literatur, das zeigt Uwe Dick immer wieder auf. Lesen heißt einverleiben. Die Zeichen der Zeit erkennen, dazu bedarf es eines wachen Auges, eines tätigen Bewusstseins, das sich nicht nur aus den vorbefindlichen, den offenkundigen Quellen speist. Uwe Dick ist unter den Dichtern der genaueste Leser, den ich kenne, ein Leser, dem das europäische Blickfeld schon schnell zu eng geworden ist. Ihm ist eine Horizonterweiterung der deutschsprachigen Literatur zu verdanken. Wir verdanken ihm einige der schönsten und gedanklich tiefsten Gedichte, die in den letzten Jahrzehnten in deutscher Sprache geschrieben worden sind. Wir verdanken ihm eine Prosa, die sinnlich und erkenntnisstiftend ist. Hier ist einer, der aus seinem Munde hervorging, der den Mund immer vollgenommen hat, voll Sprache, und das ganz zu Recht, und zum Glück auch immer kompromisslos, ohne etwas anderes erheischen zu wollen als das treffende Wort – und da muss man eben der Sprache andauernd zuhören können. Die Sprache ist Heimat – und die Heimat kann sich glücklich schätzen, dass der Dichter Uwe Dick am Werk ist.

Im Zentrum seiner Dichtung steht das Programm der 'Deckung von Sprache und Leben': 'Bin ich eins: Wort und Wesen? Dann wäre ich meiner Weltformel nahe und lebte, in dem ich schreibe, was ich lebe', heißt es in der Sauwaldprosa. Die Frage nach dem Ich lässt sich für Uwe Dick nur im gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang stellen. Historisches Bewusstsein heißt für ihn, die eurozentristische Perspektive hin zur mythischen oder auch asiatischen Vorstellungswelt, zum Beispiel der Ostjaken, Chorezem-Turkmenen, Mongolen oder Khazaren, zu öffnen.

Uwe Dicks Werk ist ein weiterer Beleg für das Wort eines Dichters, der hellsichtig auf die Aktualität Jean Pauls hingewiesen hat. 1856 schrieb Stefan George, Jean Pauls 'Lebenswerk' sei 'von überraschender neuheit unveränderlicher pracht und auffallender verwandtschaft mit euch von heute'. Kontinuitäten aufzuzeigen ist eben nicht nur ein Fall für die Geschichtsschreibung. Das hat viele Konsequenzen. Eine wichtige ist, dass es eine Literatur des bloß Privaten, eine Selbstentblößungsliteratur als Medium der Selbstbespiegelung für Uwe Dick nicht gibt. Das hat für ihn ästhetische und sprachgeschichtliche, aber auch identitätsphilosophische Gründe, die wiederum Fragen nach der – auch politischen – Haltung aufwerfen. Und selbstredend tritt Uwe Dick auch das Erbe der Frühen Moderne an, die sprachästhetisch und identitätskonzeptionell so einiges ins Rutschen brachte, um es mal gelinde auszudrücken. Die Frage, wer ist der Autor, ist dementsprechend nicht so einfach zu beantworten. Viele sind der Autor: Persona, Larve, Maske.

Michael Lentz


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