Bayern 2 - Hörspiel


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Eran Schaerf Ich hatte das Radio an

Stand: 16.01.2017 | Archiv

Eran Schaerf: "Ich hatte das Radio an"  | Bild: Eran Schaerf

In einem Interview, das vom TIME Magazin zitiert wurde, widersprach Marilyn Monroe Berichten, denen zufolge sie auf Kalenderfotos nichts anhatte und sagte: Ich hatte das Radio an. Wenn man erwägt, dass der englische Begriff „coverage“ sowohl Berichterstattung als auch Deckvermögen bedeutet, sagte Monroe: ich hatte Berichterstattung, also war ich gekleidet. Berichterstattung wird dabei als ein Format evident, das im ohnehin nicht-visuellen Medium Radio nicht nur zeigen, sondern auch verdecken kann.

Die Frage „Wer hat was wann wo wie und warum getan?“ zählt nach wie vor zur Kerninformation jeder Nachrichtenmeldung. In der Transparenzgesellschaft entzieht sich jedoch das „Wer“ dieser Frage seiner Identifizierung. Bei Demonstrationen sorgt der Einsatz von Masken für Anonymität und bringt den Erkennungsdienst des Staatsapparats zum Leerlaufen. Neu ist das nicht. Bekanntlich pflegte Pythagoras seine Vorträge hinter einem Vorhang zu halten. Das wäre im Radio nicht nötig gewesen, doch unter politischen oder fiktionalen Bedingungen genügt die Unsichtbarkeit des Sprechers nicht immer. Bertolt Brecht benannte sein Hörbild Der Lindberghflug um in Der Ozeanflug, als Lindbergh sich als Sympathisant der Nazis herausstellte. Mauricio Kagel wollte in Der Tribun keinen bestimmten Politiker wiedergeben, weil „der Hinweis auf einen bestimmten Diktator die Realität der Fiktion nur schwächen würde.“ Für Nachrichten taugen Anonymisierungsstrategien wenig. Sie entziehen sich der redaktionellen Arbeit an jeder Nachricht, die das „Wer“ zu enthüllen trachtet, und werden deshalb in die Geschichtsbücher geschickt. Dabei ist das Nachrichtenwesen durch die Synchronisierung von Ereignissen und ihrer Bekanntmachung in sozialen Medien ohnehin post-redaktionell geworden.

Das Hörspiel Ich hatte das Radio an ist ein Mitschnitt aus einem zukünftigen, post-redaktionellen Radiosender. Die Rolle der Nachrichtenredaktion übernimmt dabei ein Software-Programm, das Nachrichten aus einem Nachrichtenpool zusammenstellt. Wie Google weiß das Programm, wofür sich der Hörer interessiert, und stellt – je nach Ortung des Hörers – die Nachrichten zusammen, die für den betreffenden Empfangsradius des Hörers aktuell sein sollen. Das Prinzip ist also nicht: „ein Brand nebenan ist interessanter als ein Krieg weit weg“, sondern: Schlagwörter, Tags und Links. „Kritiker des programmierten Nachrichtenpools“, heißt es in dem Hörspiel, „unterstellen dem Sender eine zeitübergreifende thematische Zusammenstellung von Meldungen, die historische Ereignisse unterschiedlichster Epochen zufallsautomatisch ins Verhältnis zueinander setzt.“ Ja, die Vergangenheit meldet sich wieder und auch Mauricio Kagel, der Gegenwart zur Zufallskultur erklärte.

Eran Schaerf: Ich hatte das Radio an

Mit Tim Heller
Komposition: Normal Love/Pauline Boudry, Ben Kaan
Regie: Eran Schaerf
BR 2017, Länge: 30’58


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