Bayern 2 - Hörspiel


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Neuer Podcast "Der ewige Spießer" Zeitloser Roman als humorvolles Hörspiel

Hörspiel in 4 Teilen

Stand: 22.12.2017 | Archiv

Wandlungsgeschichten

Es sind Wandlungsgeschichten unter dem Einfluss der Zeit, die Ödön von Horváth in seinem dreiteiligen Roman Der ewige Spießer erzählt. Im München des Jahres 1929 ist der Erste Weltkrieg noch nicht lange vorbei. Die Wirtschaftskrise macht sich im Alltag bemerkbar und radikale rechte wie linke Ideologien breiten sich aus. Dazwischen Menschen wie Alfons Kobler, Anna Pollinger und Josef Reithofer.

"Es soll nun versucht werden, in Form eines Romans einige Beiträge zur Biologie dieses werdenden Spießers zu liefern. Der Verfasser wagt natürlich nicht zu hoffen, daß er durch diese Seiten ein gesetzmäßiges Weltgeschehen beeinflussen könnte, jedoch immerhin."

Aus: Der ewige Spießer

Herr Kobler wird Paneuropäer

Als Alfons Kobler im Schellingsalon seinen Freunden von einer Reise zur Weltausstellung in Barcelona erzählt, hat er noch keine klare Vorstellung von der paneuropäischen Idee. Und auch die Begegnung mit dem geschwätzigen Wiener Journalisten Schmitz auf der langen Zugreise bleibt diesbezüglich eher theoretisch. Erst als Kobler in Barcelona seine mühsam eroberte Geliebte an den kapitalen Mister A. Kaufmann verliert, ist er restlos überzeugt, dass es gilt, Grenzen zu überwinden. Im europäischen Zusammenschluss gegen die rohe amerikanische Übermacht liegt die Zukunft. Nicht nur in Liebesdingen. Ein wenig diffus noch ist diese neue Perspektive und vielleicht doch auch gegen den unbestreitbar konservativen Kern der eigenen Seele sprechend, jedoch immerhin.

Fräulein Pollinger wird praktisch

Weil Anna Pollinger ihre Arbeit verliert, bleibt ihr nichts anderes übrig, wird ihr gesagt. Beim nächsten Rendezvous, einer Autofahrt an den Starnberger See, sagt sie vor dem ersten Kuss also „Umsonst gibt es nichts!“ und verhandelt. Sie hat dann zwar keine Gefühle dabei, jedoch immerhin. Danach hält sie ein Fünfmarkstück in der Hand.

Herr Reithofer wird selbstlos

Obwohl Josef Reithofer ein Mistvieh ist und im Arbeitsamt in der Thalkirchener Straße mit Anna Pollinger auf ein ebensolches trifft, muss doch auch einmal etwas Gutes getan werden in diesen schlimmen Zeiten. Als er Anna, die ihn noch kurz vorher ausnehmen wollte, eine Stelle als Näherin vermitteln kann, tut er es. Reithofer ist jetzt ein selbstloses Mistvieh, immerhin! Große Wirkungen haben bekanntlich kleine Ursachen. Und große Ideen auch.

Orientierungslosigkeit

In seiner ersten selbständigen Prosaveröffentlichung aus dem Jahr 1930 ist Ödön von Horváth scharfer Beobachter eines neuen Menschentyps. Kleinbürger, die lernen, zu überleben, sich anzupassen, Privates und Politisches zusammen zu denken, auch wenn dabei so manche gedankliche Schieflage entsteht. In ihrer zwischen Dialekt und angelesenen Floskeln changierenden Sprache entlarven sie ihre Orientierungslosigkeit ebenso, wie sie ihr so leicht von außen beeinflussbares Bewusstsein demaskieren.

Der werdende Spießer

Ödön von Horváth ging es mit dem Roman aber nicht um Parodie oder beißende Satire. Vielmehr hoffte auch er auf die bekanntlich großen Wirkungen durch kleine Ursachen. Und weil er dabei im werdenden Spießer zugleich den ewigen Spießer erkannte, hat so manche Charakterisierung im Roman bis heute nichts an Aktualität verloren.

"Horváths 'Ewiger Spießer' besticht neben seinem Witz, seinem Sarkasmus und seiner pointierten Sprache vor allem durch eine Vielzahl präzise beobachteter Figuren. Mit oft nur wenigen Sätzen werden sie scharf skizziert: die (neu)gierigen, opportunen Kleinbürger; die verlogenen Feiglinge; die geschwätzigen Intellektuellen und faschistischen Aufschneider; die melancholischen Künstler; die Träumer und Verlierer. Dieses menschliche Kaleidoskop ins Hörspiel zu übersetzen, ist Herausforderung und Freude zugleich – und so standen im Studio letztlich 21 wunderbare Schauspieler in 26 Rollen. Atmosphärisch bereichert durch die zitathafte und humorvolle Zither-Musik von Georg Glasl, sind wir der Biologie des 'werdenden Spießers' am Ende sicher nicht vollständig auf die Schliche gekommen, jedoch immerhin."

Bernadette Sonnenbichler

Ödön von Horváth: Der ewige Spießer (1-4)

Mit Peter Simonischek, Stephan Zinner, Johannes Silberschneider, Brigitte Hobmeier, Stefan Leonhardsberger, Constanze Wächter, Hannes Ringlstetter, Markus Böker, Peter Fröhlich, Norman Hacker, Irina Wanka, Marie Theres Futterknecht, Johannes Meier, Dieter Fischer, Felix Hellmann, Andreas Wimberger, Andrea Wenzl, Oliver Scheffel, Wowo Habdank, Ulla Geiger, Jens Atzorn

Bearbeitung: Katarina Agathos/Bernadette Sonnenbichler
Komposition: Georg Glasl
Regie: Bernadette Sonnenbichler
BR 2015

Ödön von Horváth, gemalt von Gabriele Münter

Ödön von Horváth,
1901 geboren in Fiume (heute Rijeka, Kroatien).
1908 Übersiedlung nach Budapest.
1909 Versetzung des Vaters nach München, Ödön von Horváth bleibt in Budapest, Besuch eines Erzbischöflichen Internats.
1913/14 Übersiedlung nach München zu den Eltern und Besuch des Realgymnasiums.
1918 erneuter Umzug mit den Eltern nach Budapest.
1919 Umzug der Familie Horváth nach Wien, dann nach Bayern. Ödön von Horváth bleibt in Wien, Besuch eines Privatgymnasiums und Abitur.
Noch im gleichen Jahr Immatrikulation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
1923 intensive schriftstellerische Arbeit, mehrere Wochen Aufenthalt in Paris und Berlin.
1924 Umzug in eine vom Vater gekaufte Villa in Murnau.
1929 Abschluss eines Vertrags mit dem Ullstein Verlag über die „gesamte schriftstellerische Produktion“.
1929 Spanienreise.
1930 Mitglied des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller und anderer Berufsverbände.
1931 Vernehmung als Zeuge bei einem Saalschlacht-Prozess in Weilheim und Angriff durch Nationalsozialisten. Kleist-Preis.
1932 Auflösung des Vertrags mit dem Ullstein Verlag.
1933 Abreise aus Deutschland über Salzburg nach Wien. Heirat der Sängerin Maria Elsner.
1934 Scheidung und Rückkehr nach Berlin, Beitritt in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller.
1935 Aufenthalt in Wien.
1936 bei einem Besuch der Eltern in Possenhofen Mitteilung darüber, dass er Deutschland zu verlassen habe.
1937 Ausschluss aus dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller.
1938 starke Depressionen, Abreise aus Wien nach Budapest, weiter nach Zürich und Paris, wo er am 1. Juni von einem herabstürzenden Ast getötet wird.


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