Bayern 2 - Hörspiel


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Max Herrmann-Neiße Der Todeskandidat

Stand: 30.05.2017 | Archiv

Marek Harloff | Bild: picture alliance/rtn-radio tele nord

Clemens, Anfang vierzig, in Arbeit und Brot, behaust und ohne Familie lebt in Berlin. Sein Leben scheint so weit in Ordnung. Doch an einem Tag, an keinem besonderen Tag, einfach an irgendeinem Tag reicht die Kraft nicht mehr aus, um aufzustehen, das Tagwerk zu beginnen und der Arbeit nachzugehen. Clemens bleibt lethargisch und interesselos liegen. Aber irgendwann wird Clemens auf dem Bett liegend Zeuge, wie sich eine Maus in tagelanger Arbeit den Weg durch die Wand in sein Zimmer erkämpft. Er will es dieser Maus gleichtun. Er will aktiv werden und wenigstens Klarheit über seinen Zustand gewinnen. Dieser Zustand, der doch wohl eine Krankheit sein muss. Dieser Zustand, wenn er denn eine Krankheit ist, der doch wohl von einem Arzt behandelt, gelindert, gebessert, geheilt  - oder zumindest diagnostiziert  - werden kann. Also rafft er sich auf, fährt durch die halbe Stadt zu einem Arzt, der ihm irgendwann empfohlen wurde. Es gibt wohl keine Alternative in der Nähe, oder es  gehört die Mühsal des Wegs schon zur Therapie. Clemens bleibt erschöpft, das jeweilige nächste Empören, Aufbäumen oder Rebellieren hat nie genug Entscheidungskraft um eine klare Kurskorrektur herbeizuführen. Der Arzt examiniert ihn, stellt mehr Fragen als er Antworten gibt, hält ihn hin und bald ist Clemens Mitglied in der häuslichen Gemeinschaft geworden, der er sich ausliefert, um eine Demütigung nach der anderen zu akzeptieren, in der Hoffnung, endlich wenigstens die Diagnose zu erfahren. Diese wird Clemens schließlich durch das auf seine eigene Weise schamlose Kind der Arztfamilie mitgeteilt. Clemens ist der nächste Todeskandidat, was für das Kind nichts anderes bedeutet, als das nächste Spielzeug, in einer Reihe von Spielzeugen, die kaputt gegangen sind.

Die Erzählung „Der Todeskandidat“, 1927 erschienen, ist das letzte Prosawerk, das Max Herrmann-Neiße veröffentlichen konnte. In einer nüchternen, realitätsnahen und desillusionierten Sprache geschrieben, ist die Erzählung, in der man dem Schwächeren wie es darin heißt, „die Lebensberechtigung abspricht, taugt er nicht für die Zwecke der Mächtigen, ist er dem Menschenverbrauch kein genügend nützliches Objekt“, ein Beispiel für die thematische und formale Aktualität der frühen literarischen Moderne.

Max Herrmann-Neiße: Der Todeskandidat

Mit Marek Harloff, Peter Fricke, Christiane Roßbach, Helmfried von Lüttichau, Thomas Loibl, Paul Dobmeier
Regie: Ulrich Lampen
BR 2017

Max Herrmann-Neiße (1886–1941), ab 1911 Gedichte in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion und in der von Alfred Kerr herausgegebenen Zeitschrift Pan. Erzählungen und Theaterstücke. Nach dem Reichstagsbrand 1933 Exil nach London. Aberkennen der deutschen Staatsangehörigkeit, vergeblich Beantragung der Englischen Staatsbürgerschaft. Am 8.4.1941 Tod in London. Werke u.a. Sie und die Stadt (1914), Die Preisgabe. Gedichte (1919), Der Flüchtling (1920), Die Begegnung. Vier Erzählungen (1925), Der Todeskandidat (1927), Um uns die Fremde. Gedichte (1936).


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