Bayern 2 - Hörspiel


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Geschichte der linken Revolte "Der Verleger" von Nanni Balestrini

Der Roman zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod des linksradikalen Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinellis 1972 bei einem missglückten Anschlag auf die Stromversorgung Mailands, um den sich bis heute Gerüchte halten.

Stand: 11.03.2022 | Archiv

Der Verleger Giacomo Feltrinelli | Bild: picture alliance dpa ansi

Vor 45 Jahren, am 14. März 1972, wurde, unter einem Hochspannungsmast in Segrate, einem kleinen Ort in der Peripherie der lombardischen Metropole Mailand, die Leiche des Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli entdeckt. Die eilig abgeschlossene gerichtliche Untersuchung kam zu dem Schluss, Feltrinelli sei, bei dem Versuch, den Mast zu sprengen, ums Leben gekommen. Gerüchte, dass er sein Leben nicht etwa durch einen selbstverursachten Unfall verloren habe, sondern vielmehr Opfer eines Mordanschlags geworden sei, gab es sofort – sie wollen bis heute nicht verstummen. Sein Tod war nicht nur für die bürgerlichen Kreise der Stadt ein Schock. Ganz Italien hielt inne. Denn die Feltrinellis waren so etwas wie die Buddenbrooks von Mailand gewesen. Giacomo Feltrinelli, der Gründer dieser Dynastie von Händlern und Bankiers, galt bei seinem Tod im Jahre 1913 als reichster Mann Mailands. Später, zu den Zeiten der Republik von Salò, sollte sein Schloss am Gardasee Mussolini als Amtssitz dienen. Dass sein Nachkomme seit längerem dem italienischen Terrorismus nahestand und bereits im Untergrund lebte, war bekannt: Denn im aufgeputschten Klima jener Jahre hatte er sich politisch radikalisiert, ja, war sogar Mitbegründer der GAP, der „Gruppe der Partisanenaktion“. Unter anderem mit Rudi Dutschke befreundet war er 1967 zudem – vergeblich – nach Bolivien gereist, um Che Guevara nach Italien zu holen.

"Der ‚Verleger‘, um den es geht ist offensichtlich Feltrinelli, ein berühmter linksradikaler italienischer Verleger, der sich Anfang der 70er dazu entscheidet, den bewaffneten Kampf aufzunehmen und dabei auch umkommt. Aber Der Verleger ist kein Buch über ihn. Die Geschichte erzählt vielmehr von 4 Personen, damals aktiv in der Linken, die versuchen, seinen Tod zu rekonstruieren, um einen Film darüber zu machen. Es ist ein Buch, das den Wendepunkt beschreibt, den Feltrinellis Tod darstellte. Mit ihm starb die alte Linke, die alten Gewerkschaften, der alte bewaffnete Kampf. Er war – weil er den Jungen sehr offen gegenüber war – so etwas wie die Drehscheibe zwischen der alten und der neuen Linken. Die Form des Dialogs zwischen den 4 Personen über den Film, der sich allerdings im Verlauf des Dialogs als unrealisierbar herausstellt, ermöglicht das unabhängige Urteil des Lesers. Die verschiedenen Aspekte spielen eine Rolle. Und das machte die Form mit verschiedenen Ebenen und wie gesprochenen Dialog für mich naheliegend."

Nanni Balestrini

Mit Der Verleger, dem 1989 (in deutscher Sprache 1992) erschienenen Buch über Giangiacomo Feltrinelli, schließt Nanni Balestrinis große Trilogie über den Kampfzyklus von 1969 bis 1977 ab.

Die ProtagonistInnen des Romans, die 1972 auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf den Tod Giangiacomo Feltrinellis bei einem missglückten Anschlag auf die Stromversorgung Mailands reagieren, versuchen 15 Jahre später, einen Film über „den Verleger“ und die Bedeutung seines Todes für die Linke zu machen. Im Gegensatz zu den ersten beiden Bänden seiner Trilogie Die große Revolte: Wir wollen Alles und Die Unsichtbaren werden im Roman Der Verleger zwei Zeitebenen ineinander montiert. Auf diese Weise entsteht eine sehr komplexe literarische Reflexion, sowohl über bewaffnete Politik und Guerilla wie auch über die Entwicklung der linken Bewegungen in Italien.

"Sein Tod hatte große Bedeutung für mich. Feltrinelli war mein Freund. Aber auch für Italien war das ein Einschnitt. Bis dahin gab es einen Teil der Bourgeoisie, die mit der 1968er Bewegung einverstanden war, sie sympathisierte mit vielen Ideen, aber war nicht richtig Teil der Bewegung. Das änderte sich mit seinem Tod. Die bürgerlichen Intellektuellen mussten Stellung beziehen, und das war ein erster Bruch. Das ist genau der Grund, warum ich meine, sein Tod sei ein Wendepunkt gewesen. 1972 werden Entscheidungen getroffen: die bürgerliche Linke muss Stellung beziehen, der bewaffnete Kampf fängt richtig an, die alte Partisanenlinke verschwindet und neue Formen werden gefunden."

Nanni Balestrini

Nanni Balestrini: Der Verleger

Teil I: vierzehn Uhr dreißig
Teil II: er spürt nichts mehr


Komposition: Suzanne Farrin
Bearbeitung und Regie: Michael Farin
BR 2017


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