Bayern 2 - Zeit für Bayern


21

Ein Stück Böhmen in Bayern 70 Jahre Neugablonz - Ein Stadtteilporträt

1946 - vor 70 Jahren - kamen die ersten von insgesamt 10.000 vertriebenen Sudetendeutschen aus dem Landkreis Gablonz an der Neiße im heutigen Tschechien in Kaufbeuren an.

Von: Rupert Waldmüller

Stand: 27.06.2016 | Archiv

70 Jahre Neugablonz  - Bilder aus der Ausstellung im Isengebirgsmuseum | Bild: Isergebirgs-Museum Neugablonz

Dass es Neugablonz heute überhaupt gibt, ist im Wesentlichen dem Gablonzer Ingenieur Erich Huschka zu verdanken. 1945, als in seiner Heimat die Vertreibung gerade erst beginnt, hat er schon die Vision, die Glas- und Schmuckindustrie geschlossen an einem neuen Ort wieder anzusiedeln - nach seiner Überzeugung die einzige Möglichkeit, die Jahrhunderte alte Industrie über die Vertreibung hinaus zu retten.

Die Anfänge

Als geeigneten Ort sucht sich Huschka das ehemalige Rüstungsgelände der Dynamit AG bei Kaufbeuren aus. Bei der amerikanischen Besatzungsmacht und der Bayerischen Staatsregierung stößt Huschka mit seiner Idee aber auf teils erhebliche Widerstände: Die Amerikaner wollen keine geschlossenen Vertriebenensiedlungen, der damalige bayerische Wirtschaftsminister Ludwig Erhard favorisiert das Fichtelgebirge als Standort.

Die Ausstellung

70 JAHRE NEUGABLONZ
Ein fotografischer Streifzug
19. März bis 28. August 2016
geöffnet täglich außer Montag von 14-17 Uhr

Gedenkstein erinnert an das Lager Riederloh.

Am 26. Juni 1946 schließt Huschka deshalb an der Militär- und der Staatsregierung vorbei aber mit der Unterstützung der Behörden vor Ort einen Pachtvertrag mit dem zuständigen amerikanischen Offizier in Kaufbeuren: Kurz darauf dürfen die ersten Gablonzer auf das Trümmergelände der Dynamit AG, das bis dahin Sperrzone ist. Die Amerikaner hatten die Bunker und Anlagen der Rüstungsfabrik weitgehend gesprengt. Werner Warta - damals sieben Jahre – zieht mit seiner Familie in das Gebäude mit der Nummer 568 ein.

"Das Dach war ausgehoben, die Fenster waren zerborsten von den Sprengungen, die ganzen Gebäude waren voll Müll. Aber man hatte ein Dach über dem Kopf und das war das Allerwichtigste."

Werner Wata


Eine weitläufige Trümmerlandschaft ist der Ort für den Neuanfang. In alten Bunkern, Werksgebäuden und neu errichteten Baracken entstehen die ersten kleinen Werkstätten, der Wiederaufbau der Gablonzer Schmuckindustrie beginnt.

Trümmer 1948 in Neugablonz

"Die einfachsten primitiven Schmuckstücke sind zum Beispiel von Amerikanern für ihre deutschen Freundinnen gekauft worden – aus einfachem Blech, nur bemalt. Und teilweise wurde auch aus Kasein, was hier in den Molkereien besorgt werden konnte, Schmuck hergestellt. Es war eine Notwenigkeit. Von irgendwas musste man ja leben. Und am Besten war man natürlich, wenn man wusste, was man kann und wenn man das eingesetzt hat."

Werner Wata

Ein Stadtteil bekommt, was er braucht


Innerhalb kürzester Zeit erwacht das Trümmergelände der alten Sprengstofffabrik zu neuem Leben: Schon Ende 1946 nimmt die erste Glashütte ihren Betrieb auf, Anfang 47 entstehen die ersten Einzelhandelsgeschäfte, kurz darauf Feuerwehr und Post. Mitte 1948 hat der neue Stadtteil  Kaufbeuren-Hart 1.243 Einwohner und rund 100 Betriebe.

Die Sudetenstraße 1950

Auch außerhalb der früheren Dynamit AG geht der Aufbau der Gablonzer Industrie rasant weiter: In und um Kaufbeuren siedeln sich tausende Vertriebene aus Gablonz und Umgebung an, bis Mitte 1948 erwirtschaften 5.300 Mitarbeiter in knapp 600 Schmuck- und Glasbetrieben einen Umsatz von 100 Millionen Reichsmark. Buchstäblich wie Phönix aus der Asche erhebt sich die Gablonzer Industrie aus den Trümmern – eine Leistung, die den Historiker Manfred Heerdegen auch heute noch beeindruckt:

"Man kann sich kaum vorstellen, wie groß die Schwierigkeiten waren: Das Gelände in Trümmern, allgemeine Not. Und da so eine Leistung zu vollbringen, wie eine ganze Industrie völlig neu aufzubauen nach einer Vertreibung, die praktisch das Ende eigentlich bedeutet hätte für diese Industrie, diese Leistung kann man gar nicht hoch genug einschätzen."

Manfred Heerdegen

Neugablonz heute

Die Sudetendeutsche Straße 2015

Mit 13.500 Einwohnern ist Neugablonz der größte Stadtteil von Kaufbeuren. Ungefähr fünf Kilometer sind es vom Neuen Markt bis runter ins Zentrum und die Altstadt von Kaufbeuren. Hier oben gibt es alles, was man zum Leben braucht, betonen die Gablonzer gerne: Geschäfte, Ärzte, Restaurants, Supermärkte und vieles mehr. Durch den Zuzug der Gablonzer vor 70 Jahren ist Kaufbeuren faktisch eine Doppelstadt geworden: Die alte historische Stadt unten, eine neue mit eigenem Zentrum oben. Und Gertrud Hofmann ist stolz auf das, was hier entstanden ist:

"Hier war alles voller Wald, voller Trümmer. Und wenn Sie sich jetzt umschauen: Es sind schöne moderne Wohnungen da, schöne Geschäfte da, Kultureinrichtung ist da. Also ich denke schon, es ist eine Erfolgsgeschichte geworden. Oh ja."

Gertrud Hofmann

Nach 70 Jahren ist Neugablonz ein fester Bestandteil Kaufbeurens geworden. Und bis heute ein kleines Stück Böhmen in Bayern


21