Bayern 2 - Land und Leute


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Grünzeug Eine kleine Ethnobotanik - 1) Die Fichte

Pfeilgerade stehen sie da, fast immer in Reih und Glied. Da windet sich nichts vorlaut in eine andere Richtung, da wuchert nichts eitel und sinnlos vor sich hin. Fichten wissen, was sich gehört. Fichten sind keine zickigen Egomanen, sondern disziplinierte Teamplayer. Fichten können sich unterordnen. Wo Fichten stramm stehen, ist der Kosmos geregelt und die Welt aufgeräumt. Hier kann man sich in Sicherheit wähnen, hier kann man sich niederlassen, hier kann man, sofern man mit seiner Allerliebsten allein auf weiter Flur weilt, gar Zärtlichkeiten austauschen.

Von: Thomas Kernert

Stand: 06.04.2012 | Archiv

Fichtenwald | Bild: picture-alliance/dpa

Die gemeine Fichte ist kein sehr imposanter Baum. Zwar erreicht sie mitunter eine Höhe von bis zu 60 Metern, ihr Charisma wirft dennoch keinen Schatten. Fichten sind lange Lulatsche und wären sie Menschen, würde man sie als Zimmerdeckenanstreicher, nicht aber als Künstler, Wissenschaftler oder Unternehmer verpflichten. Meist tritt der Flachwurzler im Plural auf, wie z.B. im Hofoldinger Forst, einem knapp 3000 Hektar großen Gehölz im Süden Münchens. Geht man durch einen Fichtenforst, so denkt man weder an Hänsel und Gretel, noch an böse Wölfe oder Feen, sondern an Spanplatten und Zellstoffverbundelemente.

Der Wald als Rohstofflieferant

Fichte wird mit Harvester gefällt

Dem Bayern ist dies sehr recht. Der deutschen Waldmystik fühlt er sich eh kaum verpflichtet. Wälder sind für ihn keine Märchenbücher, sondern Rohstofflieferanten. Bäume sucht er nicht im Wald, sondern höchstens im Biergarten. Seelische Erholung findet er weit oberhalb der Baumgrenze in mindestens 2000 Metern Höhe. Für sakrale Zwecke verwendet er meist Lindenholz, welches er billig aus China importiert. Von dorther stammt auch das Wurzelholz für die Mittelkonsole eines 7er BMWs.

Der bayerische Baum schlechthin

Beten und BMW-Fahren sind freilich die eine Sache, der Alltag eine andere. Und eben deshalb ist die Fichte der bayerische Baum schlechthin: lang, anspruchslos und ohne besondere Vorkommnisse. Wie ein Spaziergang durch den Hofoldinger Forst. Zellstoffingenieur Thomas Kernert versucht dennoch sein Bestes ...

Bayern ist für Borkenkäfer das Land der freien Liebe

Baumschädling: Der Borkenkäfer

"Eine große Liebe zur Fichte hegt neben dem Bayern ebenfalls der Borkenkäfer. Auch er treibt‘s in den Wäldern, benötigt dazu aber mindestens eine Temperatur von 18 Grad Celsius. Früher, als die Fichte noch ein klassischer Gebirgsbaum war und es noch keine künstliche Erderwärmung gab, hatte der männliche Borkenkäfer wenig Gelegenheit, im Fichtenholz so genannte 'Rammelkammern' anzulegen, um dort seinem angebeteten Weibchen nahe zu sein. Entsprechend wenige Borkenkäferkinder gab es. Heute indes baut man Fichten auch und vor allem auf dem flachen Land an. In Monokulturen stehen sie wie senkrechte Büchsensardinen dicht beieinander. Für den großen, geilen, achtzähnigen Fichtenborkenkäfer, auch 'Buchdrucker' genannt, einem Monster von bis zu 5,5 Millimetern Länge, sowie für seinen Kollegen, den sechszähnigen 'Kupferstecher' die Gelegenheit, sich zügel- und hemmungslos zu vermehren. Bayern ist für sie, wenn man so will, das Land der freien Liebe, das Tahiti, das Thailand der Rüsselkäfer. Für die Fichte ist das Ganze weniger angenehm."


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