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Blackbox Heim Wie der Staat behinderte Kinder im Stich lässt

Eingesperrt, isoliert, fixiert: Nach Informationen von BR Recherche sind Kinder mit geistiger Behinderung in bayerischen Heimen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausgesetzt. Jetzt reagiert auch die Politik.

Von: Christiane Hawranek, Lisa Wreschniok (BR Recherche), Michael Kubitza (BR24)

Stand: 08.04.2016 | Archiv

Silhouette eines eingesperrten Kindes hinter Glas | Bild: colourbox.com

Eine Kleinigkeit genügt, um eine Krise auszulösen. Dann liegt der 17-jährige Leon am Boden, schreit, schlägt um sich. Der Sohn von Sabine Richard ist schwer behindert, ein Autist. Irgendwann entscheidet die Mutter schweren Herzens, ihn ins Heim zu geben. In mehreren Einrichtungen stellt sie ihren Sohn vor. Überall wurde sie gefragt: Stimmen Sie zu, dass wir Ihren Sohn einsperren?

"Das war für mich total verstörend. Die können doch nicht die Kinder in die Zimmer einsperren! Das Argument ist: Das brauchen die Kinder zu ihrem Schutz. Das kann auch mal sein, aber nicht in der Masse."

Sabine Richard, Mutter eines behinderten Jungen

Ohne Unterschrift kein Heimplatz?

Sabine Richard - die wie ihr Sohn in Wirklichkeit anders heißt - hat mit sich gerungen, ob sie an die Öffentlichkeit gehen soll. Sie weiß, der Job der Betreuer ist hart. Sie bieten ihrem Sohn den immergleichen strukturierten Alltag, der im Familienleben unmöglich ist. Was ihr aber schlaflose Nächte bereitet hat: Sie hat zugestimmt, dass ihr Sohn eingesperrt werden darf, wenn er aggressiv wird. Sabine Richard fühlte sich unter Druck gesetzt: Ohne Unterschrift kein Heimplatz.

Kann das sein? Das Heim beantwortet diese Frage des BR nicht. Der Sprecher eines anderen Heims bestätigt im Interview mit BR Recherche:

"Wenn Eltern das nicht möchten, diese Maßnahmen aber unbedingt nötig sind, müssen wir schon überlegen, ob wir die richtige Einrichtung sind."

Heimsprecher der Diakonie Neuendettelsau

Blackbox Kinderheim

Um welche "freiheitsbeschränkenden Maßnahmen" - so das Amtsdeutsch - geht es?
Was ist erlaubt, was wird in Bayern tatsächlich angewandt?

Zimmerpause, Nachteinschluss und Time-Out-Raum

ELT - Einschluss laut Tagesplan - steht in den Protokollen eines Heims. Bis zu 16 Mal am Tag, dazu die ganze Nacht wird ein Junge in seinem Zimmer eingesperrt. Die Maßnahme gilt laut Heimleitung der "Beruhigung, Entspannung und Erholung" etwa bei Kindern mit Unruhezuständen und agressiven Tendenzen. Dazu kommt die anlassgebundene und kurzfristige Verbringung der Kinder in sogenannte Time-Out-Räume.

Spezialbetten und Fixierungen

Oft sollen Zelthimmel über den Betten zur Beruhigung beitragen. Klappt das nicht, werden in der nächsten Eskalationsstufe Spezialbetten eingesetzt - käfigartige Konstruktionen, mitunter auch bloße Sperrholzverschläge mit Luftlöchern. Im Prinzip sollen die Kastenbetten von den Kindern zu öffnen sein - in der Praxis sind sie es oft nicht. Manche Kinder werden zum Einschlafen in ihren Betten fixiert, andere tagsüber auf Stühlen.

In einem Fall, den BR Recherche im Sommer 2015 aufdeckte, ermittelt die Staatsanwaltschaft. Doch es geht nicht nur um Einzel- und Extremfälle.

Eine offizielle Statistik über freiheitsbeschränkende Maßnahmen gibt es in Bayern nicht. Diese Recherchen in Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung "DIE ZEIT" legen nahe, dass in bayerischen Heimen Kinder immer wieder eingesperrt werden. Eine Umfrage unter Heimen bestätigt den Verdacht.

Nur 21 von 30 befragten Heimen antworten. Drei geben an, auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu verzichten. 18 behalten sie sich vor. Die Heime rechtfertigen sich - es gehe um Deeskalation in Extremsituationen. Alle betonen, dass sie Freiheitsentzug nur in Einzelfällen anwenden, in Abstimmung mit den Eltern und nach Abwägung aller Alternativen.

Was das bedeuten kann, zeigen Schilderungen von Eltern behinderter Heimkinder, dem Pflegepersonal und weitere Dokumente, die BR Recherche vorliegen. Drei Beispiele.

Berichte aus bayerischen Kinderheimen

Nächtlich Einschluss im Dunkeln

Franz Kurzmeier, ehemaliger Pfleger im Franziskushaus in Au am Inn, berichtet, dass er viele Kinder nachts systematisch wegschließen musste. Zum Beispiel einen geistig behinderten Achtjährigen - sprachgestört und hyperaktiv. "Wenn der nachts aufgewacht ist, war die Aufgabe, dass man ihn wegen motorischer Unruhe ins Zimmer einsperrt. Mit dem Erfolg, dass der Bub 20 Minuten gegen die Tür geschlagen und noch mehr geschrien hat. Irgendwann hat er aufgegeben - ich sag mal, wegen Erschöpfung - ist aber bis zum Morgen nicht mehr eingeschlafen." Wenn die Kinder sich nicht beruhigten, sei ihm empfohlen worden, von außen das Licht auszumachen.

Eingepfercht in der "Pferdebox"

Eine Mutter berichtet von einem Mädchen, das in seinem Zimmer eingesperrt war. Die Tür: zweigeteilt, oben ein Gitter, aus Holz gedrechselt. Wie eine Pferdebox.

"Die hat alleine in ihrem Zimmer gegessen und dann wurde die Tür zugesperrt. Und die stand dann an dem Gitter, mit den Händen an diesem Zaun und hat gejammert."

Eimer statt Toilette

Ein Ehepaar berichtet, was ein geistig behinderter Junge in einer Wohngruppe erzählt hat: Er werde nachts eingesperrt, bekäme einen Eimer hingestellt, auf dem er aufs Klo gehen solle.

Das Heim habe alles abgestritten. "Ich hab dem Sozialbetreuer gesagt, er soll sich das anschauen, und der hat auch die Eimer und die Urinflaschen gesehen und dann hieß es: Nee, nee, das ist nur, wenn sie krank sind."

Das Sozialministerium kennt Zustände in den Heimen nicht

Erstaunlich: Das Bayerische Sozialministerium bestreitet zunächst, dass Kinder oder Jugendliche mit geistiger Behinderung in bayerischen Einrichtungen eingesperrt werden. In der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Alexandra Hiersemann, die BR Recherche vorliegt, heißt es wörtlich:

"Kinder oder Jugendliche mit Behinderung werden nicht in Zimmern oder Time-Out-Räumen eingesperrt. Die Herausnahme eines Kindes aus der Gruppe oder das Verbringen in eine reizarme Umgebung, das kann das eigene Zimmer oder ein sogenannter Time-Out-Raum sein, dient etwa bei stark erethischem Verhalten (motorische Unruhe, leichte Erregbarkeit) zur Beruhigung. Die Zimmer werden dabei nicht abgesperrt."

Antwort Bayerisches Sozialministerium

Die vielen Schilderungen von Eltern behinderter Kinder im Heim und zahlreiche Dokumente, die BR Recherche vorliegen, belegen das Gegenteil. Zimmereinschluss, Fixierung, Time-Out-Raum - all das ist Realität in vielen bayerischen Heimen. Und das hat jetzt auch die Politik aufgeschreckt.

Ministerin Müller kündigt Überprüfung der Heime an

Am Donnerstag ist Sozialministerin Emilia Müller zurückgerudert:

"Wir haben das Ganze jetzt revidiert, weil wir wissen dass es das gibt. Es ist notwendig, darüber zu reden, das aufzuklären und dort, wo notwendig, eine Veränderung herbei zu führen. Wir haben Ihre Recherche zur Grundlage genommen, um alles aufzuklären."

Bayerische Sozialministerin Emilia Müller

Jetzt hat die Ministerin eine große Überprüfung von 104 bayerischen Heimen für behinderte Kinder angekündigt. Das hätte schon längst passieren sollen, kritisiert Kerstin Celina, die sozialpolitische Sprecherin der Grünen im Bayerischen Landtag. Sie fordert ein Zwangsmaßnahmen-Register, damit das Einsperren der Kinder nicht mehr im Verborgenen stattfindet, sondern transparent gemacht werden muss.

"Ich bin der Meinung, dass die Staatsregierung das Thema seit vielen Jahren vernachlässigt und auch nicht sehen will."

Kerstin Celina von den Grünen im Landtag

Ein Problem aber bleibt: Anders als bei Erwachsenen, die unter Betreuung stehen, muss bei Kindern kein Richter diese so genannten "freiheitbeschränkenden Maßnahmen" genehmigen. Es reicht die Zustimmung der Eltern. So hat es der Bundesgerichtshof in einem Urteil von 2013 entschieden.

Die Eltern, heißt es in der Begründung, können dies "in Ausübung elterlichen Sorge selbst genehmigen". Bei Volljährigen, die als nicht einwilligungsfähig gelten, muss jede Form der Freiheitsbeschränkung richterlich genehmigt werden, selbst das Hochfahren des Gitters am Pflegebett. Wie kann es sein, dass die Rechtssituation für Kinder eine völlig andere ist?

Experten schlagen Alarm

Professor Jörg Maywald von der National Coalition Deutschland, die sich für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention einsetzt, warnt vor einer Grauzone, in der Missbrauch Tür und Tor geöffnet sei.

Isabell Götz, Familienrichterin am OLG München und Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstages fordert, den Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen auch bei Kindern an eine richterliche Prüfung zu koppeln, so wie es bei unter Betreuung stehenden Erwachsenen der Fall ist. Eltern würde damit auch der Druck der Entscheidung genommen werden und die Einrichtungen müssten sich einer externen Kontrollinstanz stellen.

Das Bundesjustizministerium prüft den Vorschlag, ein neues Gesetz, so heißt es auf Nachfrage des Funkstreifzugs, sei derzeit nicht Sicht. Auch das bayerische Sozialministerium sah bisher keinen Änderungsbedarf.

Sabine Richard fühlt sich allein gelassen. Ihre pauschale Zustimmung zu freiheitbeschränkenden Maßnahmen hat sie zurückgenommen. Sie hat Angst, dass aus dem Ausnahmefall Routine werden kann. Zu schrecklich ist ihr der Gedanke, dass ihr Kind, wenn es Probleme macht, einfach weggesperrt werden kann - ganz legal.


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