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Lesen // "Tschick" Ein Buch, das so viel mehr ist als ein großartiger Roadtrip

Für viele ist "Tschick" das einzige Buch, das sie gerne im Schulunterricht gelesen haben. Für PULS Autorin Jasmin Körber ist es aber etwas ganz Besonderes – denn "Tschick" ist viel mehr als die Geschichte, die darin erzählt wird.

Von: Jasmin Körber

Stand: 13.09.2016 | Archiv

Ein blauer Lada fährt auf einer Landstraße zwischen knallgelben Feldern | Bild: Studiocanal

Als ich mir "Tschick" vor einigen Jahren gekauft habe, hatte ich keine Ahnung von dem ganzen Hype, der damals um das Buch gemacht wurde. Ich hatte einen Interrail-Trip nach Südeuropa geplant und brauchte noch dringend ein passendes Buch für die langen Zugfahrten. "Tschick" lag damals zufällig in der Bahnhofsbuchhandlung rum. Und zack, von 0 auf 100 wurde "Tschick" zu einem meiner Lieblingsbücher. Um die Dimension zu verdeutlichen: Seit Jahren prangt ein Zitat aus "Tschick" auf meiner Facebook-Seite, als Begleittext meines Cover-Fotos. Normalerweise würde ich jeden, der sowas dermaßen Pathetisches macht, mit einer Computertastatur zu Tode prügeln. Aber "Tschick" hat es geschafft, irgendwas in mir auszulösen. Was genau, darüber habe ich lange gerätselt.

Reden über Schwachsinn, Mädchen und Liebe

In "Tschick" treffen zwei wahnsinnig unterschiedliche 14-Jährige aufeinander. Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, kommt aus Russland. Er ist ein Mysterium, sein zukünftiger bester Freund Maik das genaue Gegenteil: "reich, feige, wehrlos". Die beiden werden irgendwie dann doch best buddies, klauen zusammen einen alten Lada und machen damit einen Roadtrip. Und schneller als ihr geklauter Lada über die Landstraßen jagt, reden Maik und Tschick über viel Schwachsinn, aber auch über Familie, Mädchen, die Liebe. Und das immer nebenbei und ohne moralischen Vorschlaghammer.

Klar, "Tschick" ist in erster Linie ein Roadtrip-Buch. Aber "Tschick" ist eben noch viel mehr. Denn in dem Buch steckt auch viel von Autor Wolfgang Herrndorf selbst, genauer gesagt sein trocken-lapidarer Humor, seine sehr direkte Art zu schreiben und sein Blick auf die Welt.

Das habe ich erst verstanden, nachdem ich über Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur" gestolpert bin. Den Blog hat er begonnen, nachdem er am 8. März 2010 in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Diagnose: ein unheilbarer Gehirntumor. Herrndorfs Reaktion: Er zieht sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück, keine Auftritte mehr, keine Lesungen, keine Interviews.

"Ich bin traurig"

Aber in "Arbeit und Struktur" beschreibt er von da an, wie er mit seinem Tumor lebt und wie er sich auf den Tod vorbereitet – so offen, dass das Lesen oft weh tut. Er beschreibt seine Aufenthalte in Krankenhaus und Psychiatrie ("Gespräche mit den Ärzten laufen darauf hinaus, daß sie versuchen, mir Erinnerungslücken nachzuweisen, weil ich mich an sie und ihre Namen nicht erinnere. Mich nennen sie grundsätzlich Hernsdorf."). Er beschreibt seinen körperlichen und geistigen Verfall ("Kann mich mit C. kaum sinnvoll unterhalten. Sie versucht meine Sätze zu erraten und zu ergänzen. Ich bin traurig."). Er überlegt laut, wie er sich wohl am besten umbringt, wenn die Sache mit dem Tumor zu schlimm wird. ("Was ich brauche, ist eine Exitstrategie. […] Weil ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht."). Herrndorf ist es dabei egal, ob er Tabus bricht – zu verlieren hat er schließlich eh nichts mehr.

Man rechnet nie damit, dass Leute, die man kennt, sterben

Ich kannte Wolfgang Herrndorf natürlich nicht persönlich. Aber irgendwie hat mir "Arbeit und Struktur" das Gefühl vermittelt, einen Menschen auf einer Ebene zu kennen, auf der ich sonst niemanden kenne. Weil alles, was er auf dem Blog geschrieben hat, echt war. Herrndorf versteckt nichts, er beschönigt nichts, er dramatisiert nichts an seiner Situation. Bis zum Schluss. Am Ende von "Arbeit und Struktur" steht da lapidar: "Schluss. Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen."

Ich weiß noch, wie perplex ich war, als ich den Satz gelesen habe. Man rechnet nie damit, dass Leute, die man kennt, sterben. Selbst wenn sie die vorangegangenen drei Jahre nicht viel anderes tun, als einen Blog über ihr Sterben zu schreiben. Aber "Arbeit und Struktur" war eben kein Hollywood-Drehbuch, sondern die Chronik eines Verfalls. Genauso wie "Tschick" nicht einfach irgendein Buch ist, sondern der Ausdruck von Herrndorfs besonderer Persönlichkeit. Das Besondere an "Tschick" ist der Wolfgang Herrndorf, der in ihm steckt.


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