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Freie Liebe und Beziehungsvielfalt Ein Abend beim Stammtisch für Polyamorie

Nase voll von Monogamie? Verliebt in zwei Menschen? Oder einfach nur neugierig? Wir haben unsere Reporterin zum "Stammtisch Beziehungsvielfalt" in Regensburg geschickt. Dort hat sie viel über Polyamorie und Vorurteile erfahren.

Von: Rachel Roudyani

Stand: 11.02.2016 | Archiv

Polyamorie am Stammtisch | Bild: BR

Gehört habe ich vom "Stammtisch Beziehungsvielfalt" von einer Freundin. Etwas stolz und etwas irritiert hat sie mir erzählt, dass ihre kleine Schwester - ich nenne sie mal Lara - jetzt polyamor lebt und dazu gleich mal einen Stammtisch leitet. Meine Vorurteile: Stammtisch ist was für alte Männer. Und Polyamorie gehört nach Berlin. Die Vorurteile meiner Freunde und Bekannten klingen ungefähr so: "Polyamorie, ahh, ihh, geht doch nicht!" und "Boah, treffen die sich da zum Sex?"

Vorurteil 1: Stammtisch ist was für alte Männer

Also auf zum Bahnhof und in den Zug nach Regensburg. Ich treffe Lara am Bahnhof. Lara leitet den "Stammtisch Beziehungsvielfalt". Sie ist 21 und Studentin. Die meisten, die zum Stammtisch kommen, sind wie sie zwischen 20 und 30 Jahre alt. Viele Studenten, erzählt sie. Deshalb kommt auch mit jedem Semester ein Wechsel. Den Stammtisch gegründet hat eine Freundin von Lara, aber die macht jetzt ein Auslandssemester. "Uns ging's nicht darum, uns prinzipiell über Polyamorie auszutauschen, sondern vor allem um die Offenheit," sagt Lara, "deshalb kommen auch Menschen, die monogame Beziehungen führen. Und das finde ich voll schön."

Vorurteil 2: Boah, treffen die sich da zum Sex?

Heute bin ich der einzige monogame Exot am Tisch. Zur Beruhigung meiner Freunde: Der Stammtisch trifft sich ganz neutral im Nebenraum der "Geflickten Trommel", einem Restaurant in der Innenstadt. Also nein, kein Abschleppdienst. Aber auch Sandra, die regelmäßig vorbeikommt, hatte beim ersten Besuch den Gedanken: "Das war tatsächlich meine Erwartung, als ich hier herkam. Da dachte ich auch: Oh, muss ich jetzt hier vorzeigbare Unterwäsche anziehen, wenn ich da hingehe? Und wie wohl der Abend enden könnte und so. Aber es ist einfach ganz und gar überhaupt nicht so."

Vorurteil 3: Polyamorie gehört nach Berlin

Sandra ist 28 und frisch mit dem Studium fertig. Sie hofft jetzt, für einen Job nach München ziehen zu können. Da wohnt ihr Freund, mit dem sie seit sieben Jahren zusammen ist. Manchmal sind da noch andere Männer oder Frauen gewesen - bei ihr und bei ihm. Jetzt gerade nicht. Auch bei den anderen am Stammtisch gibt es die verschiedensten Beziehungsformen. Georg, der Oldster, bezeichnet sich nicht als polyamor. Aber monogame Beziehungen waren auch nie seins. Und selbst das wurde von der Umwelt nicht so recht angenommen. Überall ist er auf Frauen gestoßen, die nach der einen wahren Liebe suchen. Und die wollte er aber nicht sein. Okay, aber warum braucht es dafür einen Stammtisch? Ich gehe ja auch nicht zum "Monostammtisch".

"Ich glaube schon, dass gerade der Lebensbereich Beziehung viel Redebedarf bieten kann, und gerade dadurch, dass es so persönlich ist, hat man nicht die Gelegenheit oder den Raum, das zu tun. Und dann zu wissen, da ist so ein geschützter Ort, wo Leute so eine gewisse Offenheit haben, dass ich erzählen kann ohne verurteilt zu werden, finde ich schon ganz schön."

Teilnehmerin beim Stammtisch Beziehungsvielfalt

Vorurteil 4: Polyamorie, ahh, ihh, geht doch nicht!

Ablehnung oder Unverständnis ist hier schon jedem begegnet. Stammtische haben eben doch immer den gleichen Zweck. Sei es nun die Liebe zu Frankreich, zu Zwergdackeln oder VW-Bussen: Die Menschen auf einem Stammtisch verbindet eine Leidenschaft oder ein gemeinsames Thema, und der Stammtisch ist der Ort für den Austausch. No judgement. So ein bisschen Selbsthilfegruppe zum einen, manchmal gibt es aber auch ganz theoretische Diskussionen zu Beziehungsformen oder Gesellschaftstheorien, erklärt eine andere Teilnehmerin.

"Ich finde, irgendwo setzt das schon auch ein Statement hier in der Stadt. Es geht ja weiter. Beziehung hört ja nicht innerhalb der Beziehung auf. Und gerade wenn du eine Beziehungsvielfalt lebst, eine Beziehung zwischen mehreren Menschen, dann ist das schon ein breiteres Gesellschaftsbild. Da ist es auch wichtig, irgendwo politisch zu denken, was das macht mit einer Gesellschaft."

Teilnehmerin beim Stammtisch Beziehungsvielfalt

Jetzt wird es theoretisch und nur noch mein Bier erinnert mich an das Wort Stammtisch. Polyamorie und Politik. Klar, das Modell Monogamie ist auch noch nicht wirklich alt, gerechnet auf die Existenz des Menschen. Aber nochmal zurück zu den Gefühlen und Sehnsüchten. Letztlich wird hier über die gleichen Gefühle und Sehnsüchte gesprochen, die auch Menschen haben, die in einer monogamen Beziehung leben. Und so komisch es klingt: Treue scheint hier sehr ernst genommen zu werden. Nur eben eine andere Art von Treue.

Der letzte Zug fährt gleich. Ich wäre gerne noch geblieben. Was ich von diesem Abend mitnehme: Wie vieles, was etwas über den Tellerrand hinausgeht, macht Beziehungsvielfalt das Leben erstmal nicht unbedingt leichter. Und egal ob Poly, Mono, Offen oder Single: Irgendwie braucht das Sozialwesen Mensch eben offene Ohren für seine Wünsche und Sehnsüchte. Nur die muss man finden. Und für Lara, Sandra und die anderen gibt es die eben hier beim "Stammtisch Beziehungsvielfalt".


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