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Ruhmeshalle Ton Steine Scherben - Keine Macht für Niemand

Diese Platte ist ganz unabhängig von Zeitgeist, Moden und Trends. Stattdessen steht sie für den immerwährenden und ewigjungen Kampf für Freiheit, Menschlichkeit und das Recht auf Utopien.

Von: Jutta Buck

Stand: 12.12.2008 | Archiv

Rio Reiser und Band, 1990 | Bild: picture-alliance / dpa | Elsner

Diese Platte muss ungefähr immer herhalten, wenn es darum geht, uns Spätgeborenen das Lebensgefühl von '68 nahe zu bringen. Absurd, wenn man bedenkt, dass das Album erst 1972 erschienen ist und sich auch die Band Ton Steine Scherben erst 1970 in West-Berlin gründete.

Rio Reiser und die anderen Bandmitglieder der Scherben waren gerade mal Anfang 20, als sie mit ihrem zweiten Album "Keine Macht Für Niemand" ihr frühes Meisterstück schufen. Es ist quasi das "White Album" des deutschen Politrocks. Die Blaupause nicht nur für linken Agit-Pop oder Punk, sondern der Referenzpunkt für jedes deutschsprachige Rock-Album, das danach folgen sollte.

Weder Besserwisser noch Bildungsbürger

Dass es keine studierten Besserwisser oder Bildungsbürger waren, die da sangen, erdet die Platte bis heute. Sie spricht eine Sprache, die jeder versteht. Und in Verbindung mit Reisers charismatischer Stimme gehören die Texte mit zum Besten an deutscher Poesie nach 1945. Dazu Musik, die von den Stones, den Kinks und den Zombies beeinflusst ist.

"Keine Macht Für Niemand" ist ein Rebell. Das Album propagiert aber keine destruktive Anarchie. Stattdessen atmet es den Geist des sozialen Kollektivs. Der große Mittelfinger an alle Turbokapitalisten und Menschenjäger da draußen!

Einer der berühmtesten Songs, der "Rauch-Haus-Song", ist bis heute die Hymne aller Hausbesetzer – dank solcher Textzeilen: "Und wir schreien's laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!"

Aufbegehren gegen die Abrissbirne

Der Song und die ganze Platte erteilten mir eine Lektion in Sachen Machbarkeit von Utopien: Mitte der Neunziger raffte sich in einem kleinen Kaff im Schwäbischen eine Gruppe dauerdepressiver, desillusionierter Grunge-Kids dazu auf, sich aktiv gegen den Abriss ihres Jugendhauses zu wehren. Sich nicht alles gefallen zu lassen, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen.

PS: "Keine Macht Für Niemand" ist immer noch die Platte, die mir am öftesten aus meinem DJ-Plattenkoffer geklaut wurde. Und das ist vollkommen okay so. Diese Platte taugt nicht zum Besitz für einen einzelnen, sie ist und bleibt ein Stück Allgemeingut.

Und was kam danach?

Schon 1975 hatten die Scherben die Schnauze voll davon, immer vor den linksalternativen Politkarren gespannt zu werden. Sie zogen auf einen Bauernhof nach Fresenhagen in Friesland, um sich auf die Musik konzentrieren zu können. Denn bei allem politischen Engagement waren sie doch begnadete Musiker.

1985 erdrückte ein Schuldenberg die Band und trug so zu ihrem Ende bei. Rio Reiser widmete sich fortan seiner Solo-Karriere und schenkte der Welt mit "Junimond", "König von Deutschland" und anderen Songs ebenso kommerziell erfolgreiche wie auch großartige Klassiker, bevor er 1996 verstarb.


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