Die Vermessung der Popmusik Woher die Algorithmen von Spotify wissen, was wir zum Einschlafen hören wollen

Algorithmen sind das geheime Superhirn von Spotify. Sie können nicht nur Playlisten generieren, die perfekt zu unserem Musikgeschmack passen - sondern verändern mittlerweile auch die Art und Weise, wie Popsongs geschrieben werden.

Von: Stefan Sommer

Stand: 25.01.2018 | Archiv

Spotify Grafik | Bild: BR

Was würde wohl passieren, wenn die erste Strophe der deutschen Nationalhymne an einem Montag landesweit in den "Dein Mix der Woche"-Playlisten bei Spotify auftauchen würde? TV-Experten, die sonst nach Amokläufen die Killerspiel-Debatten bei Illner und Will mit Endzeit-Visionen beleben, würden besorgt vor den Tücken der modernen Welt mahnen: Man würde von einem "Rechtsruck" sprechen, von diesen "Filterblasen" und sich letztendlich einigen, dass das "Internet" die Quelle allen Übels sei.

Der Fall "Cara al Sol"

In Spanien passiert das gerade wirklich. Dort stand ein Techno-Remix einer Lobeshymne auf den faschistischen Diktator Franco letzte Woche auf Platz 1 einer Spotify-Liste der meistgestreamten Songs des Landes. "Cara al sol" ist ein in rechtsextremen Zirkeln gerne gesungenes Lied der Falange-Bewegung aus den 1930er Jahren - der Club-Edit dank Spotify jetzt auch ein viraler Hit.

Dass ihn der Algorithmus der Streaming-Plattform überhaupt als Popsong anerkennt und folglich in die wöchtenlichen Empfehlungen spanischer Abonnenten spült, hat zu einem handfesten Skandal geführt. Die spanische Öffentlichkeit diskutiert, wie das Lied der "Movimiento Nacional" von Spotify als Feel-Good-Hit eingestuft werden konnte.

Man kann das als eines von vielen Symptomen einer nationalistischen Wende Europas lesen und hätte sicher nicht unrecht. Da ist aber noch mehr: Das Erscheinen des Songs in den spanischen "Dein Mix der Woche"-Playlisten ist eine seltene Irritation, in einem sonst bruchlosen System. Denn normalerweise sind die Song-Empfehlungen von Spotify genauer als jeder Insider-Tipp eines musikvernarrten Plattenladenbesitzers.

Es muss da also jemanden geben, der uns und unsere Leidenschaften sehr gut kennt. Jemanden, der weiß, wer wir sind und welche Musik wir zum Einschlafen oder Duschen hören wollen. Jemanden, der uns in einem angetrunkenen Moment der Schwäche mit "Hit me Baby, one more time!" beglückt - und uns in dieser Sekunde besser kennt, als wir uns selbst.

"Obviously, the more we know about the listener, the better everybody is."

Der ehemalige The Echo-Nest-CEO Brian Whitmann im Interview mit dem Billboard-Magazin

The Echo Nest - das Musikintelligenz-Unternehmen

2014 kaufte Spotify ein Startup für rund 100 Millionen US-Dollar, das sich selbst als "leading music intelligence company with the deepest understanding of music content and music fans" bezeichnet. Das ist keine Übertreibung. Sie besitzen mehr als eine Billiarde Daten über nahezu jedes Musikstück, das auf der Welt jemals geschrieben wurde. Weltkonzerne wie Coca Cola, Foursquare, MTV, Reebok, Nokia und eben Spotify bezahlen große Summen um dieses Wissen nutzen zu dürfen. Ihre Algorithmen bespielen 400 verschiedene Apps und beraten rund 100 Millionen Menschen jeden Monat musikalisch, die von "The Echo Nest" vermutlich noch nie etwas gehört haben.

Die MIT-Absolventen Tristan Jehan und Brian Whitman haben das Unternehmen 2005 gegründet. Entstanden aus ihrem Dissertationsprojekt, arbeiten heute rund 60 Leute in der Konzernzentrale in Somerville bei Boston an nichts geringerem, als der Zukunft der Popmusik. Über die Jahre hat das Unternehmen Algorithmus-unterstütze Verfahren entwickelt um Musik zu analysieren und zu kategorisieren - Tonhöhe, Songlänge und Tempo sind da nur die offensichtlichsten Parameter. Das Unternehmen kann mit der Kategorie "Valence" sogar auswerten, ob Popmusik in den letzten 50 Jahren trauriger oder fröhlicher wurde.

Die Vermessung der Popmusik

Wie ein Chemiker Substanzen in einzelne Bestandteile trennt, hat "The Echo Nest" Methoden entwickelt, die verschiedenen Elemente einer Audio-Datei zu untersuchen und als Daten zu erfassen. Ein Beispiel: "The Echo Nest" teilt Songs in 1500 verschiedene Genres auf. Ihre Techniken machen es möglich, Musik bis ins kleinste Detail messbar zu machen.

Was aber unterscheidet ihre Arbeitsweise von gängigen Audio-Analyse-Tools? Neben der physischen, akustischen Seite eines Songs, versucht das Unternehmen die "soziale" Komponente eines Musikstücks zu erfassen. Mittels Data-Crawling durchforstet "The Echo Nest" wie eine Suchmaschine alle Posts und Kommentare, die über einen Song in den sozialen Medien verfasst werden. Was User über den Song schreiben, wer ihn postet, zu welcher Tageszeit, mit welchem Gerät, an welchem Ort und verbunden mit welchen anderen Songs, gibt Auskunft über den gesellschaftlichen Kontext der Musik und ihre soziale Verortung. Diese Daten sind der Kern des Geschäftsmodells von Spotify und ihre wichtigste Waffe im Kampf um Abonnenten gegen Apple, Netflix und Deezer.

Professor Pelle Snickars von der Universität Umea

Wie jede gute Currywurstbude, die eine besondere Zutat für die perfekte Soßenmixtur geheimhalten will, versucht auch der Streaming-Dienst seine Algorithmen zu schützen. Schwedische Forscher von der Universität Umea arbeiten seit einigen Jahren daran, Musik-Streaming transparenter zu machen. Das Team um Professor Pelle Snickars hat mit Hilfe von Bots Fake-User geschaffen, die in Spotify wie eine Plattenfirma auftreten und Musik bereitstellen. Mit den Daten, die Spotify den Forschern so liefert, versuchen sie einen Blick in die Black Box zu erhaschen. Spotify hat deswegen unlängst versucht, die Forschungen zu unterbinden.

"Wir wollten etwas über Spotify lernen und mit ihnen in direkten Kontakt kommen. Das ging leider nicht: Sie wollten nicht wirklich mit uns sprechen. Darum haben wir uns entschieden, mit technischen Hilfsmitteln wie Bots und Computerprogrammen in das Innerste der Plattform vorzudringen. Wir wollten herausfinden, wie ihre Algorithmen funktionieren und wie diese so präzisen Empfehlungen entstehen. Das hat Spotify nicht gefallen."

Pelle Snickars, Universität Umea

Nachdem der schwedische Streaming-Dienst die nationalen Behörde zur Förderung von wissenschaftlichen Arbeiten auf Verstöße gegen die Nutzungsrichtlinien aufmerksam gemacht hatte, blieb das Gremium standhaft und entschied sich die Fördermittel nicht ausszusetzen. Pelle Snickars und seine Kollegen forschen weiter und werden im Laufe des Frühjars 2018 in ihrem Buch "Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming Music" erste Ergebnisse vorstellen.

Das "Taste-Profile"

Der Datenberg, auf den die Forscher mit ihren Bots gestoßen sind, hilft Spotify für jeden Nutzer des Streaming-Dienstes ein "Taste Profil" zu erstellen. In Clustern nach Genres, Künstlern und Stimmungen geordnet, entsteht eine Kartei der eigenen musikalischen Gewohnheiten. Vorlieben und Wünsche von Usern mit einem ähnlichen Taste-Profile oder Mitgliedern eines ähnlichen sozialen Milieus helfen, die Vorschläge zu präzisieren. In Zukunft plant Spotify so, weniger Bibliothek als täglicher Begleiter zu sein. Shiva Rajaraman, ein ehemaliger Manager bei Spotify, gab der Wired 2015 seine Vision zu Protokoll:

"What if we took this to its full conclusion? Where instead of orienting around this idea of having music which you put in a library, we orient more around your life?"

Shiva Rajaraman, ehemaliger Spotify-Manager

Das bedeutet nichts weniger, als die vollständige Integration in den Alltag des Users: Über die GPS-Daten und die Uhrzeit des Logins kann "The Echo Nest" beispielsweise erkennen, ob man gerade frühmorgendlich im Wald joggt oder in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit sitzt. Sprich: Workout-EDM oder "I don't like Mondays." Wie weit das heute schon passiert, lässt sich nur schwer einschätzen. Ein Blick in die Allgemeinen Nutzungsbedingungen gibt jedoch Anlass zu der Vermutung, dass dieses Szenario schon heute Wirklichkeit sein könnte:

"Abhängig von den Einstellungen können wir auch Informationen zu Ihrem Standort über beispielsweise die GPS-Daten Ihres Mobilfunkgeräts oder andere Formen der Lokalisierung mobiler Geräte (z.B. Bluetooth) erfassen. Erfasst werden auch Informationen von Sensoren – etwa Daten über die Geschwindigkeit Ihrer Bewegungen, beispielsweise, ob Sie laufen, gehen oder unterwegs sind."

Spotify, Nutzungsbedingungen

Der schwedische Forscher Pelle Snickars von der Universität Umea weißt daraufhin, welche Rolle Facebook dabei spielt:

"Spotify ist verbunden mit anderen sozialen Netzwerken und Plattformen - vor allem mit Facebook. Was man dort postet, bleibt nicht da. Es findet seinen Weg in die Algorithmen von Spotify und The Echo Nest. Es ist eine computergenerierte Umgebung, die in die Daten-Maschinerie von Spotify rückkoppelt. Welche Daten sie wirklich benutzen, lässt sich aber nur schwer beurteilen. Diese Informationen teilt Spotify nur mit Firmen, mit denen sie zusammenarbeiten. Also nicht mit uns."

Pelle Snickars, Universität Umea

Das Verschwinden des Intros

Die Möglichkeit mit den Daten von "The Echo Nest" vorherzusagen, in welcher Sekunde das Einsetzen welches Instruments zum Weiterskippen des Songs führt, wird Popmusik grundlegend verändern. Wenn Plattenfirmen anhand dieser Analysen einschätzen können, wie ein Song gebaut sein muss, um nicht beendet zu werden, werden sie ihr Wissen nutzen und Songs nach Spotify-Bauplan konstruieren. Wenn beispielsweise 71 Prozent aller Hörer ein Stück wegdrücken, im Moment, wenn Thom Yorkes Gesang einsetzt, wird es für Sony, Universal oder Warner wenig Gründe geben, weiterhin teure Platten mit dieser Stimme aufzunehmen. So werden sie nur noch Songs einkaufen oder gar in Auftrag geben, die in Spotify bestehen können.

Und diese Entwicklung hat längst begonnen: Wie einst Alben nach der Anzahl der verfügbaren Rillen auf einer Vinyl-Schallplatte erdacht wurden, müssen Songs heute die 30-Sekunde-Schwelle überstehen. Pitchfork arbeitete in "Uncovering How Streaming Is Changing the Sound of Pop" heraus, dass Spotify einen Stream erst in die Single-Charts zählt, wenn der User diesen Song mehr als 30 Sekunden lang angehört hat. Das hat zur Folge, dass Songschreiber prägende, zuhörerbindende Elemente eines Stücks, die früher viel später im Lied aufgetaucht wären, schon in diesen ersten entscheidenden Sekunden platzieren müssen. Folge: das instrumentale Intro verschwindet, ein zweiter, refrainähnlicher Intro-Chorus entsteht.

Pinks "What About us" und "It Ain't Me" von Selena Gomez und Kygo dominierten 2017 die Charts. Nach weniger als zehn Sekunden waren ihre Stimmen zu hören. Für "Despacito" gibt es extra für Sportify sogar eine Version des Songs, die nach zehn - und eben nicht erst nach 30 Sekunden Luis Fonsis Stimme hören lässt. Je genauer die Datenanalyse also sein wird, desto genauer werden Popsongs auf ihre Ausspielung hin konzipiert werden. Der Sound of Spotify ist entstanden.

Popmusik 2048

Das ist aber nur der Anfang: Seit wenigen Tagen bietet Spotify die neue App "Stations" seinen Nutzern in Australien als "Experiment" kostenlos im App-Store an. Mit einer kleinen Neuerung: Das Such-Fenster ist verschwunden. Der User kann von nun an nur noch zwischen kuratierten Playlisten entscheiden - und nicht mehr selbst auswählen. Beim Öffnen der App wird eine Playlist ohne Play-Button starten und selbst innerhalb der Listen soll das Wechseln zwischen Songs nicht mehr möglich sein. Alben, Singles oder EPs werden als Kunstform einfach nicht mehr angeboten. Das ist nicht weniger als der Anfang vom Ende des klassischen Pop-Albums.

"When you have access to all the music in the world, finding the right thing to play can feel like a challenge. With Stations, you can listen immediately, and switching stations is simple and seamless - no searching or typing needed."

Stations-Beschreibung im App Store

So stehen sich bei diesem kulturellen Verdrängsungsprozess eben nicht Mensch und Maschine gegenüber, die Spotifyisierung der Popmusik geht Hand in virtueller Hand. Orwells totzitierte Schreckensvision "1984" funktioniert da nicht. Wenn ein Remix einer faschischtischen Hymne auf Franco tausendfach den Cut nach 30 Sekunden überlebt, spielt sie ein Algorithmus, der exakt darauf von Menschen geeicht wurde, selbstverständlich als bewährtes Muster in unsere Empfehlungen. Streicht man das Intro, könnte so vielleicht auch das Deutschlandlied seine Chance in einer der neuen Playlisten bekommen.

Sendung: Filter, 01. Februar 2018 - ab 15 Uhr