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Zeitstrahl zur Zuwanderung Zwischen Gewalt und gewollt

Es beginnt mit den Gastarbeitern, eskaliert in beschämender Aggression und versachlicht sich während der Euro-Krise. Zuwanderung ist für Deutschland kein einfaches Thema - aber ein entscheidendes. Eine Reise durch die Jahrzehnte.

Stand: 10.06.2013

  • 1955
    Der deutsche Wirtschaftsminister Anton Storch (l) und der italienische Außenminister Gaetano Martino (r) nach der Unterzeichnung des Abkommens über die Vermittlung italienischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik Deutschland am 21.12.1955 | Bild: picture-alliance/dpa

    Wirtschaftsminister Anton Storch mit dem italienischen Außenminister Gaetano Martino

    1955

    Beginn der Anwerbeverträge

    Zehn Jahre nach Kriegsende setzt in Deutschland das Wirtschaftswunder ein. Das Bruttosozialprodukt steigt, die Arbeitslosigkeit geht zurück, der materielle Wohlstand wächst. Der Bedarf an Arbeitskräften ist groß.

    Um "Gastarbeiter" zu gewinnen, werden Anwerbeverträge mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) geschlossen. Später folgen die Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).

  • 1960
    Spanische Gastarbeiter laden ihr Gepäck in einen Zug | Bild: picture-alliance/dpa

    Spanische Gastarbeiter laden ihr Gepäck in einen Zug.

    1960

    Das erzwungene Servus

    Die Verträge sind auf wenige Jahre befristet, danach läuft das Aufenthaltsrecht der Gastarbeiter aus. In den 1960er-Jahren werden die ersten zurückgeschickt - auch wenn diese gerne bleiben würden und sich ihre Firmen für sie einsetzen. Die Arbeiter werden durch neue ersetzt. Menschliche Schicksale spielen keine Rolle.

  • 1973
    Türken warten am Düsseldorfer Flughafen auf ihren Abflug in die Heimat | Bild: picture-alliance/dpa

    Türken warten am Düsseldorfer Flughafen auf ihren Abflug in die Heimat.

    1973

    Der Anwerbestopp

    Im Jahr der Ölkrise schreibt der Arbeitsminister unter dem Betreff "Ausländische Arbeitnehmer" an das Arbeitsamt: "Es ist nicht auszuschließen, dass die Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird." Niemand darf mehr vermittelt werden; es herrscht Anwerbestopp.

  • 1975
    Eine türkische Gastarbeiterfamilie lässt ein Familienfoto von sich machen | Bild: picture-alliance/dpa/Chris Hoffmann

    Eine türkische Gastarbeiterfamilie lässt ein Familienfoto von sich machen.

    1975

    Die Familie kommt hinterher

    Viele Arbeiter holen ihre Familien nach. Das Bildungsniveau dieser Menschen ist vergleichsweise gering, ebenso die Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Gesellschaft reagiert zunehmend abweisend.

  • 1983
    Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Rede im Jahr 1983 | Bild: picture-alliance/dpa

    Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Rede im Jahr 1983

    1983

    Kohls Statement

    Kurz nach seiner Wiederwahl als Bundeskanzler macht Helmut Kohl (CDU) eine klare Ansage: "Die Zahl der Ausländer muss halbiert werden." Kurz darauf verabschiedet die Regierung ein Gesetz, das allen Migranten 10.000 D-Mark bietet, wenn sie Deutschland für immer hinter sich lassen.

  • 1989
    Polizeikräfte blockieren am 23.09.1991 Straßen in Hoyerswerda, um eine Eskalation der Gewalt gegen Ausländer zu verhindern | Bild: picture-alliance/dpa

    Polizisten blockieren Straßen in Hoyerswerda, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern.

    1989

    Der Mauerfall

    Mit der Wende nehmen Gewalttaten gegen Einwanderer zu, ebenso die politischen Angriffe auf das im Grundgesetz verankerte Asylrecht. Die Republikaner erhalten acht Prozent der Wählerstimmen. Fortan ist viel von "Überfremdung" und "Asylmissbrauch" die Rede. Die Diskussion um Zuwanderung trägt hysterische Züge.

  • 1992
    Ein Mann steht am 27.08.1992 vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen | Bild: picture-alliance/dpa

    Ein Mann vor einem brennenden Pkw auf einer Straße in Lichtenhagen

    1992

    Eskalation in Lichtenhagen

    Die Asyldebatte und die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichen ihren traurigen Höhepunkt in Rostock. Der Stadtteil Lichtenhagen wird zum Synonym für die schwersten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegszeit.

    Zwischen dem 22. und 26. August randalieren Hunderte Neonazis vor einem Ausländerheim. Die Polizei ist vor Ort, greift aber nicht ein. Als das Haus in Flammen aufgeht, ziehen die Beamten ab, tausende Zuschauer applaudieren. Deutschland sieht weg, die Welt schaut auf Deutschland.

  • 1993
    Bundeskanzler Helmut Kohl zusammen mit anderen Abgeordneten bei der Stimmabgabe zur Änderung des Grundgesetzartikels 16 und damit der Neufassung des Asylrechts | Bild: picture-alliance/dpa

    Kanzler Kohl und Angeordnete stimmen über eine Neufassung des Asylrechts ab.

    1993

    Einschränkung des Asylrechts

    Im Mai beschließt der Bundestag den sogenannten Asylkompromiss. Durch die Änderung des Grundgesetzes werden die Möglichkeiten eingeschränkt, sich erfolgreich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen.

    Drei Tage nach dem Parlamentsbeschluss brennt das Haus einer türkischen Familie in Solingen. Fünf junge Menschen sterben. Der Anschlag hat einen rechtsextremen Hintergrund.

  • 2000
    Bundesarbeitsminister Walter Riester (l) überreicht dem indonesischen Computerspezialisten Harianto Wijayer als ersten die deutsche Green Card | Bild: picture-alliance/dpa

    Arbeitsminister Riester überreicht einem indonesischen Computerspezialisten die Green Card.

    2000

    Die Green Card

    Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bietet IT-Experten, die nicht aus der EU kommen, eine Green Card auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Auch wenn Walter Riester, Minister für Arbeit und Sozialordnung (SPD), kräftig dafür wirbt: Die Initiative bleibt eher erfolglos.

  • 2001
    Die Vorsitzende der Zuwanderungskommision der Bundesregierung, Rita Süssmuth und Bundesinnenminister Otto Schily bei einer Pressekonferenz im Jahr 2001 | Bild: picture-alliance/dpa

    Rita Süssmuth und Innenminister Otto Schily bei einer Pressekonferenz

    2001

    Ein Entwurf vor 9/11

    Im Juli übergibt die Vorsitzende der Regierungskommission zur Zuwanderung, Rita Süssmuth (CDU), einen Neuentwurf der Migrationspolitik an Innenminister Otto Schily (SPD). Die Kommission wünscht sich mindestens 50.000 Zuwanderer pro Jahr. Nach den Anschlägen des 11. September verschwindet das Papier allerdings in der Schublade.

  • 2005
    Türkischer Imbissstand | Bild: picture-alliance/dpa

    Selbstständige wie dieser Inhaber eines türkischen Imbissstands haben es leichter.

    2005

    Freizügigkeit für Arbeitnehmer

    Bundesregierung und Opposition einigen sich auf ein Zuwanderungsgesetz. Der Anwerbestopp wird beibehalten. Schlupflöcher gibt es für Selbstständige und Akademiker in der EU.

  • 2008
    Umzugskisten in einem leeren Zimmer | Bild: picture-alliance/dpa

    Die Umzugskisten sind gepackt: Viele Menschen wandern aus Deutschland aus.

    2008

    Das Auswanderungsland

    Erstmals wandern mehr Menschen aus der Bundesrepublik aus als neu zuziehen. Aus dem Einwanderungs- wird ein Auswanderungsland. Allen voran gehen Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft.

  • 2009
    Arbeitslose stehen in Madrid in einer langen Schlange vor einem Jobcenter an | Bild: picture-alliance/dpa

    Arbeitslose stehen in Madrid in einer langen Schlange vor einem Jobcenter an.

    2009

    Beginn der Euro-Krise

    Ab 2009 erschüttert die Euro-Krise viele europäische Länder, unter anderem Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Slowenien, Spanien und Zypern. Aufgrund hoher Schulden können sie sich keine neuen Kredite mehr leisten; die Wirtschaften der Länder werden herabgestuft und drohen zusammenzubrechen.

    Deutschlands Konjunktur bleibt weitgehend stabil, was es für junge Arbeitnehmer aus den Krisenländern in den Folgejahren attraktiv macht.

  • 2011
    Gedenkstein für die NSU-Opfer | Bild: picture-alliance/dpa

    Gedenkstein für die NSU-Opfer

    2011

    Hass im Untergrund

    Im November wird der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) Thema in den Medien, der aus der rechtsextremen Szene der 1990er-Jahre hervorging. Der terroristischen Vereinigung um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sollen bis zu 200 Unterstützer angehört haben. Ihr wird eine Mordserie vorgeworfen, bei der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten ums Leben kamen. Das späte Eingreifen der Behörden wirft ein nachhaltig negatives Bild auf Deutschland.

  • 2012
    Ein Mann mit Aktentasche spiegelt sich  in den Glasscheiben eines Bürogebäudes | Bild: picture-alliance/dpa

    Mann mit Aktentasche: Wer gut verdient, darf eher kommen als andere.

    2012

    Die Blaue Karte EU

    Wer nicht aus der Europäischen Union kommt und Minimum 46.000 Euro Bruttogehalt pro Jahr plus Universitätsabschluss vorweisen kann, erhält seit August die befristete Blaue Karte EU. Sprich: Er darf einwandern.

    Ausländische Akademiker haben zudem die Möglichkeit, ein Visum für ein halbes Jahr zu beantragen, um in Deutschland nach einer Arbeitsstelle zu suchen.

  • 2013
    Europaschild "Bundesrepublik Deutschland" vor blauem Himmel | Bild: picture-alliance/dpa/Romain Fellens

    Eine Rekordzahl von Menschen passiert das Europaschild "Bundesrepublik Deutschland".

    2013

    Der neue Boom

    Seit den 1990er-Jahren sind nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland gezogen. Eine gute Million ist es, die im Jahr 2012 immigrierte, für 2013 erwarten Forscher einen weiteren Rekord.

    Laut OECD ist die Bundesrepublik durch die Reformen der letzten Jahre eines der Staaten "mit den geringsten Beschränkungen" für Zuwanderer geworden - für die hochqualifizierten wohlgemerkt.


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