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EU und Türkei Eine Beziehung auf der Kippe

Die Türkei stellt die EU-Mitglieder vor ein Dilemma: Soll man die Beziehungen zu Ankara erst einmal auf Eis legen und die Beitrittsgespräche komplett abbrechen? Oder lieber Vorsicht walten lassen, um den Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden?

Von: Petra Zimmermann

Stand: 22.07.2016

Erdogan Unterstützer bei einer Demonstration | Bild: picture-alliance/dpa

Ausnahmezustand, Todesstrafen-Debatte und Aussetzung der Menschenrechte auf der einen Seite, die Abhängigkeit von der Türkei wegen des Flüchtlingsdeals auf der anderen - die EU befindet sich im Dilemma. Momentan kann Präsident Erdogan per Dekret regieren, kann Ausgangssperren verhängen und die Medien kontrollieren. Bundeaußenminister Steinmeier mahnt zur Verhältnismäßigkeit: Die Türkei solle den Ausnahmezustand mit Augenmaß handhaben und die Rechtsstaatlichkeit wahren. Doch reicht das?

Die Hilflosigkeit der EU zeigt sich

Europa mahnt, spricht Warnungen aus, sorgt sich - und wagt es doch nicht, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara abzubrechen. Denn: Der Flüchtlingsdeal steht auf dem Spiel. Noch hofft man, dass sich die Türkei einfach wieder beruhigt. Darauf setzt auch CSU-Europapolitiker Manfred Weber und plädiert auf ein Festhalten am Flüchtlingspakt.

"Der Flüchtlingspakt funktioniert derzeit. Das Schlepperunwesen in der Ägäis etwa hat ein Ende. Es gibt keinen Grund, das Abkommen infrage zu stellen. Nach dieser akuten Phase müssen wir das Verhältnis zur Türkei neu ordnen."

Manfred Weber, CSU-Europapolitiker

Gleichzeitig räumt Weber ein, dass eine EU-Vollmitgliedschaft wohl nicht funktionieren werde und die Beitrittsgespräche mittelfristig beendet werden sollten. Eine Salamitaktik?

Seehofer fordert Abbruch der Beitrittsverhandlungen

Einer, der das Scheitern des Flüchtlingspakts riskieren will, ist der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer.

Er fordert den sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - auch wenn dies bedeute, dass die Vereinbarung zwischen EU und Türkei über die Verteilung der Flüchtlinge notfalls außer Kraft gesetzt werden müsse, sagte der CSU-Chef den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

"Wenn man sieht, wie die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch den Rechtsstaat abbaut, müssen diese Verhandlungen sofort gestoppt werden. Wir können nicht die Zuwanderungsfrage um den Preis lösen, dass wir massive neue Probleme bei uns in Deutschland heraufbeschwören."

Horst Seehofer, Ministerpräsident Bayern

Debatte um Heranführungshilfen

Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen erhält die Türkei Milliardenzahlungen von den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Nach Recherchen der "Süddeutschen Zeitung" bekam die Türkei seit Beginn der Hilfen 2007 bis 2013 von der EU 4,8 Milliarden Euro, der deutsche Anteil daran betrug fast eine Milliarde Euro. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 habe die EU weitere 4,45 Milliarden Euro eingeplant.

Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer bezeichnete die Heranführungshilfen der Zeitung gegenüber als Hohn und forderte das sofortige Einfrieren der Zahlungen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, hält die Diskussion um die Streichung indessen für wenig zielführend. Jetzt alles zu streichen, was irgendwelche Annäherung bringt - ich bin mir nicht sicher, dass das hilft", so die SPD-Politikerin im Deutschlandfunk.

Heranführungshilfen

Um Länder im EU-Beitrittsverfahren zu unterstützen, erhalten sie sogenannte Heranführungshilfen in Milliardenhöhe. Das Geld soll die Anpassung der Beitrittskandidaten an die rechtsstaatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Standards der EU erleichtern und notwendige Reformen unterstützen.

EU stellt Flüchtlingsabkommen nicht in Frage

Die EU-Kommission erklärte indessen, die Entlassung zehntausender Staatsbediensteter sowie die Entscheidungen zur Kontrolle des Bildungswesens, der Justiz und der Medien sei inakzeptabel. Die EU verfolge die Entwicklung nach der Ausrufung des Ausnahmezustands "sehr genau und mit Sorge", so EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Erklärung. Dennoch stellen die zunehmenden Repressionen aus ihrer Sicht das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nicht infrage. Die Türkei sei "bis auf weiteres" aus Sicht Brüssels ein sicherer Drittstaat, in den Griechenland gemäß der Vereinbarung vom März Flüchtlinge zurückschicken könne.

Entwicklung "bereitet Sorgen"

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maizière wollen an dem Abkommen zunächst festhalten. Die Frage, ob das Abkommen aufgrund der aktuellen Ereignisse überdacht werden müsse, verneinte de Maizière - obwohl ihm die Entwicklung in der Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch durchaus Sorgen bereite. Die Kanzlerin sieht momentan keinerlei Anzeichen, dass die Türkei "an dieser Stelle nicht zu ihren Verpflichtungen steht".

"Vieles von dem, was wir täglich erfahren, entspricht jedenfalls nicht unserem Verständnis von Verhältnismäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit."

Thomas de Maizière, Bundesinnenminister

Wie es mit den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weitergeht, hängt aus Sicht der Bundesregierung von den dortigen weiteren Entwicklungen ab. Es sei aber wegen der aktuellen politischen Situation derzeit nicht denkbar, dass "neue Verhandlungskapitel geöffnet werden", so Regierungssprecher Steffen Seibert.

Die rote Linie verschiebt sich

Im Interesse der Abschottung vor Flüchtlingen wurden der Türkei bereits einige Opfer gebracht: Sowohl das brutale Vorgehen gegen die Kurden im Land sowie gegen Kritiker aus Medien und Oppositionsparteien blieben bisher folgenlos. Nun macht man sich an der Todesstrafe als Grenze des Erträglichen fest: Dann, so der allgemeine Konsens, würden die Beitrittsverhandlungen abgebrochen. Die Europaabgeordnete Barbara Lochbihler wirft der europäischen Staatengemeinschaft hier schwere Fehler vor und fordert den sofortigen Stopp des Abkommens.

"Man setzt eine rote Linie, die ohnehin besteht, um all die anderen zu verwischen, die bereits überschritten wurden. Wenn also Erdogan jetzt noch skrupelloser gegen seine Kritikerinnen und Kritiker vorgeht, ist das auch das Ergebnis der Toleranz, mit der die EU die bisherigen Menschenrechtsverletzungen seiner Regierung hingenommen hat."

Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen im EU-Parlament

Kurz will Konsequenzen

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz sieht die europäische Perspektive der Türkei nicht nur durch die etwaige Einführung der Todesstrafe gefährdet. Es gehe auch um die Frage von Willkürherrschaft und den Umgang mit politisch Andersdenkenden, sagte Kurz. "Das sind Bereiche, in denen wir genauso rote Linien festsetzen müssen wie bei der Todesstrafe."

Erdogan weiß um seine Macht

Doch allein schon aufgrund der geostrategischen Lage ist die Türkei klar im Vorteil: In keinem anderen Land der Welt leben derzeit so viele Flüchtlinge. Diese Tatsache und die Handelsmasse Flüchtlingsabkommen geben Erdogan die Macht, die Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa maßgeblich zu beeinflussen - und damit die innenpolitischen Verhältnisse in den EU-Staaten.


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D.H., Samstag, 23.Juli 2016, 08:20 Uhr

15. Horst Seehofer hat von Anfang an sämtliche Dinge realistisch eingeschätzt

und es ist sehr verdienstvoll, dass Horst Seehofer innerhalb seiner Möglichkeiten gegensteuert.

Sati Riker, Samstag, 23.Juli 2016, 08:17 Uhr

14. Alles in Ordnung

Die türkische Regierung handelt zur Zeit doch exakt nach den Wertvorstellungen, die ich als EU-Bürger von der EU wahrnehme:
Abzocken - Gängeln - Bevormunden.
Somit kann die Türkei sofort aufgenommen werden.
Oder gibt es vielleicht andere praktizierte Wertvorstellungen?
Einziger Unterschied vielleicht: Die Türkei kämpft gegen Pressefreiheit - in Deutschland nehme ich sie als gleichgeschaltet wahr, und das seit 1998.
Und mit Erfolg für die jeweils Regierenden.
Beispiel: Die Bild-Zeitung hat Anfang 2000 den Preis ihrer Zeitung von 60 Pfennige auf 50 Cent erhöht. Wenn ich so vorgehe, kann ich natürlich niemanden wegen Euro-Abzocke anklagen. Aus der Pressefreiheit wurde also eine Verleger- bzw. Verlagsfreiheit. Unter Pressefreiheit verstehe ich allerdings die Freiheit jedes einzelnen Journalisten sich zu verewigen. Heute arbeiten Journalisten wahrschenlich nur noch nach den Vorgaben ihrer Verlage.
Die Pressefreiheit wäre also neu zu gestalten.

  • Antwort von BR-Fan, Samstag, 23.Juli, 13:09 Uhr

    @Sati Riker

    Sie beziehen aber ihre "Informationen" doch hoffentlich nicht aus dieser BLÖD "Zeitung"?

Basti-Fan, Samstag, 23.Juli 2016, 03:32 Uhr

13. Suler sympathischer und klar formulierer Kurz

Absolut wünschenswert ein Aussenminister mit klarer Ansage. Österreicher, ihr könnt stolz auf diesen Aussenminister sein!

Stephania, Freitag, 22.Juli 2016, 19:02 Uhr

12. Deal

Der Deal funktioniert doch eh nicht. Also sofortiger Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen !!!

Ritter, Freitag, 22.Juli 2016, 19:01 Uhr

11. Türkei

Wien, Erdogan Anhänger können ausreisen; Das sind deutliche Worte des österreichischen Außenminister Kurz. Diese Ansage würde ich mir von deutschen Politikern auch erwarten. Ich verstehe nicht das Landfriedensbruch a la Gelsenkirchen bei uns toleriert wird. Es ist unser Vaterland und wir machen hier unsere Spielregeln. Nur noch Terror, Islam und an jeder Ecke Asylanten als Wirtschaftsmigranten. Wo schepperts als nächstes?