NSU-Prozess


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NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 13. Verhandlungstag, 20.6.2013

Nach der abschließenden Vernehmung von Carsten S. durch die Sachverständigen folgen Stellungnahmen verschiedener Anwälte zu den Aussagen des Angeklagten und der verlesenen Erklärung von Holger G, eines weiteren Angeklagten.

Von: Rolf Clement, Holger Schmidt

Stand: 20.06.2013 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Die Verteidigung von Ralf Wohlleben widerspricht der Verwertung der Aussage von S. aufgrund dessen Weigerung, ihre Fragen zu beantworten, und beantragt letztendlich, ihren Mandanten freizulassen.

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Rolf Clement, DLF)
10.30 Uhr.
Tribüne heute locker besetzt, ca. 60 Prozent, Presse etwas mehr als sonst.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl macht die Info für die Sachverständigen sehr ausführlich, aber für uns nichts Neues - das ist eben das, was damals gesagt und an den letzten sieben Verhandlungstagen durchgekaut wurde.

(Holger Schmidt, SWR)
10.00 Uhr.
Götzl informiert Gutachter Prof. Norberg Leygraf über die Angaben von Carsten S. in der Zeit, in der Leygraf nicht anwesend war. Götzl macht das mit Tempo.

(Rolf Clement, DLF)
11.00 Uhr.
Eine Stunde spricht Götzl nun schon über zwei Verhandlungstage. Die Zschäpe-Truppe ist teilweise amüsiert, es sieht so aus, als flüsterten die über andere Dinge. Zschäpe ist nun in ihren Computer vertieft. Johannes Pausch (Verteidiger von Carsten S.) studiert seine Akten, die anderen sitzen mit recht leeren Blicken da, surfen auch mal in den Laptops. Wenig Spannendes.

(Holger Schmidt, SWR)
11.15 Uhr.
Pause bis 11.30 Uhr - bislang nur Zusammenfassung von Götzl zur bisherigen Aussage.

(Rolf Clement, DLF)
11.53 Uhr.
Befragung des Gutachters Leygraf.
Er greift eine Salmonellenerkrankung auf, fragt wegen "Inder" und "Möhrchen" als Spitznamen. Das eine bezieht sich auf den Geburtsort von Carsten S., das andere auf seinen Teint, der scherzhaft auf "zu viel Möhrensaft" zurückgeführt wurde. Leygraf hat keine weiteren Fragen.
Befragung des Gutachters Prof. Henning Saß.
Gutachter geht auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ein, fragt nach Hierarchie beim Trio.
Carsten S.: die gab es nicht, gleichberechtigt, alle haben "Wortbeiträge" geleistet.
Saß: Wie wirkte das Verhältnis? Freundschaftlich? Sachlich?
Beanstandung wegen Frage nach "innerer Verfassung". Bezieht sich auf Situation im Café, zwei bis drei Minuten reichen laut RA Anja Sturm (Verteidigung Zschäpe) für eine solche Bewertung nicht aus, er könne also nur spekulieren. Auch Begriffe wie "Führerschaft" in dem Trio sind, so RA Wolfgang Heer (Verteidigung Zschäpe), nicht zulässig.
Saß weist auf andere Fragetechnik von Psychologen hin: S. könne ja auch sagen, dass er das nicht beantworten wolle, habe er ja auch schon öfter gesagt.
Sturm versucht nochmals, die Antwort zu unterbinden: Eine Interaktion könne S. nicht bezeugen.
Götzl: Wollen Sie, dass wir nichts Neues mehr erfahren? Reicht Ihnen das aus? Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Gutachter wissen will, wie die drei zueinanderstanden.
S. sagt, er habe keine weitere Erinnerung, alle drei seien gleichberechtigt.
Keine weiteren Fragen.
S. lässt weiterhin keine Fragen der Verteidigung des Angeklagten Ralf Wohlleben zu.
Jetzt Stellungnahmen zu der Einvernahme. Nebenklage beginnt.

(Holger Schmidt, SWR)
11.57 Uhr.
Pause bis 13.30 Uhr - noch keine Erklärungen.

(Rolf Clement, DLF)
14.00 Uhr.
RA Khubaib-Ali Mohammed (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße) will umfangreiche Erklärung abgeben, Disput, ob er jetzt zur Strafbarkeit von Carsten S. etwas sagen darf. Mohammed bittet um Unterbrechung, um das mit seinen Kollegen zu klären, Götzl will das nicht. Götzl bekommt Unterstützung und schlägt vor, beim nächsten Mal eine andere Erklärung abzugeben. Götzl: Hier ist die Grundsatzfrage. Sie vertreten die Keupstraßen-Opfer.
Mohammed überlegt bis Montag.
RA Link (Nebenklage-Anwältin der Angehörigen des ermordeten Ismail Yasar) ist erleichtert, dass S. so ausführlich Rede und Antwort gestanden hat. Aber Fragen bleiben bzgl. Waffenbestellung - Appell zu überlegen: Wurde sie nicht doch mit Schalldämpfer bestellt?
Einspruch von Heer: Appell ist kein Gegenstand einer solchen Erklärung.
Götzl sieht das so, dass es möglich ist.
Die zusätzliche Waffe gibt nur mit Schalldämpfer Sinn, denn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten eine Waffe. Bitte nachprüfen, ob neue Bestellung doch mit Dämpfer.
RA Alexander Hoffmann (Nebenklage-Anwalt Keupstraße): Carsten S. hat sich selbst belastet, S. hat Wohlleben sehr belastet. Wenn selbst S. von Anschlägen berichtet wurde, müsste es anderen, älteren, engeren Freunden auch gesagt worden sein. In manchen Bereichen hatte er große Erkenntnisse, in anderen blieb er vage. War nicht ganz offen, z. B. bei seiner früheren rassistischen Einstellung, hier Manko - das entwertet seine Entschuldigung. Übergabe der Waffe ist Zentrum seines Schuldbewusstseins, deshalb da große Genauigkeit. Das war glaubhaft.
RA Serkan Alkan wundert sich, dass Carsten S. keine Fragen von Wohlleben zugelassen hat, Bedingungen dafür sind nicht erfüllbar. S hat kompetente Verteidiger, die Fragen von Wohlleben einordnen und verhindern konnten, dass von dort das Wort im Mund herumgedreht wird. Schade, dass er sich diesen Fragen nicht stellt. Die beiden Uwes wollten - siehe Taschenlampe - mehr mitteilen. Wusste S. nicht doch mehr?
RA Olaf Klemke (Verteidigung Wohlleben) widerspricht der Verwertung der Aussage S., soweit sie sich auf Tätigkeit von Wohlleben bezieht. S. hat Wohlleben belastet. Im Kern sagte er, Wohlleben habe ihn zum Waffenhändler geschickt, habe ihm das Geld gegeben, habe die Waffe gemeinsam übergeben. Moniert Antwortverweigerung. Art 6 III d der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung dazu steht der Verwertung der Aussage entgegen. Verteidigung von Wohlleben hat in diesem Verfahren keine Möglichkeit, Carsten S. konfrontativ zu befragen. Wohlleben muss also durch andere Beweise überführt werden. Bis jetzt ist das nicht gegeben, S. ist bisher der einzige Belastende, der die Taten im Zusammenhang mit der Waffenbeschaffung bezeugen kann.

(Holger Schmidt, SWR)
14.00 Uhr.
RA Nicole Schneiders (Verteidigung Wohlleben): Wir hatten umfangreichen Fragenkatalog bislang nicht gestellter Fragen. Angaben waren umfangreich, aber sehr widersprüchlich. Nichts beigetragen zur Frage, ob es sich bei der Beschaffung um die Tatwaffe handelte. Ihm sind nur zwei in Frage kommende Waffen vorgelegt worden, er habe sich "eher" für eine entschieden, die er vor 13 Jahren nur kurz gesehen haben will. Stattdessen die Waffe aber tausendmal in den Medien gesehen.
Antrag: Sofortige Freilassung Wohllebens und Aufhebung des Haftbefehls.

(Rolf Clement, DLF)
14.17 Uhr.
Erklärung Wolfgang Stahl (Verteidigung Zschäpe) zu Holger G.
G. hat gewichtige Rolle. Misslich, dass G. zur Sache nur schriftlich Stellung nimmt und keine Fragen beantwortet. Verteidiger von G. hat "unsere" Erklärung angekündigt. Diktion und Ablauf lässt den Schluss zu, dass es nicht die persönliche Erklärung von G. ist. Das führt dazu, dass die Glaubwürdigkeit von G. nicht beurteilt werden kann. Er bleibt in der Stellungnahme oberflächlich. Geht nicht in Details. Es waren immer "die drei", die etwas getan, gesagt haben. Identifizierung schuldrelevanter Handlungen und die Zuordnung zu einer Person sind damit nicht möglich. Kein Nachweis strafbarer Handlungen von Beate Zschäpe.
Aussage von G. lässt inhaltlich nicht den Schluss zu, "die drei hätten sich für den bewaffneten Kampf" entschieden, eher das Gegenteil. Er habe gesagt, dass Gewaltanwendung zwar gelegentlich diskutiert worden sei, aber da sei nicht beschlossen worden, diesen Kampf zu führen.

(Holger Schmidt, SWR)
14.30 Uhr.
RA Stahl zu Holger G.
G. hat offenkundig nicht selbst geschrieben. Lutz Hachmeister (Verteidiger von Holger G.) sprach von "unserer Erklärung". G. selbst habe gesagt, er dachte, die Zwischenüberschriften seien nicht so wichtig. Zudem spricht er immer nur vom Trio, als wenn sie "immer im Chor" mit ihm gesprochen hätten und wenn etwas getan wurde, es immer sechs Hände waren. Falls man Aussage im Ermittlungsverfahren als "Geständnis" ansehen will, war seine Aussage im Prozess ein Widerruf. Anregung: Sachverständigen berufen, der G. untersucht. Zwar habe er angegeben, keine psychische Erkrankung zu haben. Dagegen aber Schilderung einer Spielsucht, die eine klassische psychische Erkrankung sei. Stahl vermutet pathologische Veränderung des Gedächtnisses bei G., von der nicht klar sei, ob sie nur auf Gedächtnis zutrifft.
Angaben kann kein Beweiswert zukommen.

(Rolf Clement, DLF)
14.30 Uhr.
Klemke kritisiert auch Aussageverhalten von G.: Nicht klar, ob es sein Text war, der verlesen wurde. Muss mit "spitzen Händen" angefasst werden, erhebliche Zweifel.

Nebenklage-Vertreter äußern sich zu "Verwertungsverbot" der Aussagen von Carsten S.: Soll abgelehnt werden. Anspruch auf konfrontative Befragung besteht gegenüber dem Gericht, nicht gegenüber dem Angeklagten. Das Gericht hat dies eingeräumt, sich also korrekt verhalten. Daher besteht keine Verletzung Art. 6.
Nebenklage-Vertretung sieht in den Stellungnahmen Appell ans Gericht: Bewertet das vorsichtig! Kann verstehen, dass S. den Anwälten Wohllebens keine Bühne geben will. Anwältin von Wohlleben war selbst in der NPD aktiv, also Verständnis.
Zudem: Es gibt weitere Indizien für die Strafbarkeit von Wohlleben. Deswegen keine Haftaufhebung.

(Holger Schmidt, SWR)
14.30 Uhr.
Herbert Diemer (Vertreter Bundesanwaltschaft): Werden zur Verwertbarkeit zu geeignetem Zeitpunkt Stellung nehmen.
Götzl: Anträge wegen Verfahrenshindernisses einzustellen - abgelehnt. Bei wertender Betrachtungsweise besteht kein Verfahrenshindernis.
Vorverurteilung durch Ermittlungsbehörde ("Mörderbande" etc.), zudem Vielzahl von V-Leuten im Umfeld. Senat: Kein unbehebbares Verfahrenshindernis. Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes hat den dringenden Tatverdacht ebenfalls gesehen. Keine Anhaltspunkte, dass die Ermittlungsbehörden von der Schuld der Angeklagten ohne vorherige objektive Prüfung ausgegangen sind. Die Äußerungen der Politiker gehen ebenfalls nicht über das hinaus, was auch Ermittlungsrichter sieht. Recht zu Schweigen nicht in Frage gestellt - auch nicht durch Appell, dieses zu brechen. Behauptungen der Aktenunterdrückung zudem nur Mutmaßungen. Nicht als Verfahrenshindernis geeignet.
RA Sebastian Scharmer (Nebenklage-Anwalt der Angehörigen des ermordeten Mehmet Kubasik) fragt nach Zschäpe-Brief und möglichen Ermittlungen gegen Robin S.
Diemer: Der Brief ist in den Akten, kein weiterer Erklärungsbedarf.
Scharmer: Keine Ermittlungen?
Diemer: Keine Angaben zu Ermittlungen in der Hauptverhandlung.

Ende.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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