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Der "Fliegende Robert" der Literaten

Von: Ernst Eisenbichler

Stand: 12.11.2009 | Archiv

Hans Magnus Enzensberger, "Der fliegende Robert" | Bild: picture-alliance/dpa, H. Hoffmann Struwwelpeter - Prachtband 1880

"Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll, / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter!"

Anfang des Gedichts 'Der Fliegende Robert' (1980)

Hans Magnus Enzensberger | Bild: picture-alliance/dpa zum Video Im Gespräch Hans Magnus Enzensberger

Armin Kratzert 2006 im Gespräch mit dem Schriftsteller ("LeseZeichen", 28:40 min) [mehr]

Diese Zeilen darf man getrost als eine Art Selbstbeschreibung des Schriftstellers Enzensberger lesen. Assoziationen dieser Art scheinen sich für ihn anzubieten: "Luftwesen" nannte ihn einst Kollege Rühmkorf. "Überflieger" träfe wohl auch zu für einen Lyriker, Essayisten, vielsprachigen Übersetzer, Herausgeber, Zeitschriftengründer, Kinderbuchautor, Mathematik-Fan, politischen Aktivisten bei den 68ern und auf Kuba, Analysierer von gesellschaftlichen Groß- und Sauwetterlagen.

Eskapismus

Flucht aus der Wirklichkeit in eine Scheinrealität, der Begriff geht zurück aufs Lateinische (excapere = entkommen) bzw. aufs Englische (to escape = entfliehen, entkommen, entwischen).

Eskapismus ist gewöhnlich negativ besetzt oder steht sogar unter Ideologieverdacht: Der politische Eskapist schirmt sich in seiner Privatheit von gesellschaftlichen Entwicklungen ab.

Der kulturelle Eskapist bewohnt den Elfenbeinturm.

Wie den Robert aus dem Struwwelpeter zog es den 1929 im bayerischen Kaufbeuren geborenen Enzensberger früh hinaus. Statt brav "zu Hause" zu bleiben, trieb er sich in der Welt herum, versuchte sich in diversen literarischen Rollen und politischen Kontroversen. Auf eine bestimmte Position lässt er sich dabei bis heute nicht festnageln. Einen "fliegenden Robert" kann man nicht an die Kandare nehmen. Ständig entwischt er Weggefährten wie Kritikern, hebt ab von gewohnten Denkschablonen. So manchem bleibt er deshalb "unfassbar" - wie die Luftgebilde, die er im Gedicht Die Geschichte der Wolken besang.

Mit seinen unerbittlichen Analysen traf und trifft er, meistens, den Nerv der Zeit. Neben dem Philosophen Jürgen Habermas oder Günter Grass ist Enzensberger einer der wenigen deutschen Intellektuellen, die auch heutzutage noch im Ausland wahrgenommen werden. Seit 1979 wohnt der Kosmopolit in München. Am 11. November 2009 wurde er 80 Jahre alt.

Ausgewählte Werke

1960

Museum der modernen Poesie

Vor knapp 50 Jahren stellte Enzensberger hundert Dichter aus aller Welt in 351 Gedichten in 16 Sprachen vor. Viele der Übersetzungen fertigte der Herausgeber selbst an. Die Anthologie ist eine "literarische Documenta", ein "Orbis pictus der modernen Poesie" der Dichtung aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der bio-bibliografische Anhang wurde für die Neuausgabe von 2003 aktualisiert und von Hans Magnus Enzensberger mit einem neuen Nachwort versehen.

1997

Der Zahlenteufel

Eine gute Gelegenheit Kinder zur Mathematik zu verführen. Robert findet Mathe furchtbar. Doch eines Nachts begegnet ihm der Zahlenteufel, der ihn in seinen Träumen besucht. In elf Nächten erkunden sie zusammen die fantastische Welt der Mathematik, lüften das Geheimnis der Primzahlen wie das der Kaninchenvermehrung und vieles andere mehr. Das Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben, so der Untertitel, gibt es auch als Hörbuch.

1997

Die Elixiere der Wissenschaft

Enzensberger wirft in diesem facettenreichen Sammelband "Seitenblicke" in Poesie und Prosa. Ob er sich mit Bereichen der Naturwissenschaft wie Mathematik und Chemie, Medizin und Teilchenphysik oder Genetik beschäftigt, so ist dies nicht nur lehrreich sondern aufschlussreich für sein eigenes literarisches Schaffen. Der Band enthält Gedichte und unveröffentlichte Aufsätze. Auf elegante Weise "kommunizieren" Enzensbergers Texte miteinander.

2008

Hammerstein

"Der Eigensinn: Eine deutsche Geschichte" nennt Hans Magnus Enzensberger seine historisch-literarische Experimental-Collage über Generaloberst Kurt von Hammerstein. Dieser war Chef der Heeresleitung der Reichswehr von 1930 bis 1933. Er trat von seinem Amt zurück, nachdem Hitler seine Weltkriegspläne in einer Geheimrede offengelegt hatte. Ein nicht nur beeindruckendes Porträt des eigenwilligen Generals, sondern auch seiner schillernden Söhne und Töchter.

2009

Rebus

In seinem neuesten Lyrikband nähert sich Hans Magnus Enzensberger mit den Mitteln der "uneigentlichen und mehrbödigen Rede" den Rätseln der Realität. Die Gedichte handeln vom Leben, von gesellschaftlich- politischen Themen und der Natur. Viele zeichnen sich durch eine milde Abgeklärtheit aus. Enzensbergers früheres leidenschaftliches Engagement und alte bissige Wut fehlen diesen Versen. Der Dichter ist gelassen und geht auf menschenfreundliche Distanz.


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