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Hunderttausende Fälle Justiz schlägt Verfahren gegen Flüchtlinge nieder

Die Flüchtlingskrise belastet Deutschlands Staatsanwälte. Hunderttausende Verfahren wegen unerlaubter Einreise und anderer Straftaten wurden eingestellt. Vor allem Bayern ist betroffen. Wie riskant ist dieses Vorgehen in Zeiten der Terror-Angst?

Von: Joseph Röhmel

Stand: 12.06.2016 | Archiv

Mit einer Maschinenpistole in der Hand steht ein Polizeibeamter am 17.11.2010 vor dem Bundesinnenministerium in Berlin | Bild: picture-alliance/dpa

Anfang dieser Woche stand Hamad A. in Salzburg vor Gericht. Der 29-jährige Syrer musste sich wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung und wegen Diebstahls verantworten. Am Ende verurteilte ihn das Gericht zu zwei Jahren Haft. Hamad hatte unter anderem Propaganda der Al-Kaida-nahen Al-Nusrafront im Internet geteilt. Es war der erste Prozess dieser Art in Salzburg. Weitere werden folgen.

Insgesamt sitzen sechs als Flüchtlinge nach Österreich gereiste und in Salzburg gefasste Männer in Haft. Allen wird eine Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Hinzu kommen zwei mutmaßliche Dschihadisten aus Syrien, die Anfang Juni in Graz zu je vier Jahren Haft verurteilt wurden.

Der nun in Salzburg verurteilte Hamad ist deshalb interessant, weil es durchaus Bezüge nach Bayern gibt. Im Oktober 2015 war er als Flüchtling nach Europa gekommen. Am Grenzübergang Freilassing betätigte sich der damals 28-Jährige als Dolmetscher. Eigentlich wollte er wohl auch nach Deutschland, landete aber dann in einer Unterkunft in Salzburg. Dort soll er vor anderen geprahlt haben, er sei bei kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien dabei gewesen.

Ein solches Szenario ist durchaus auch in Deutschland denkbar. In letzter Zeit haben sich Nachrichten, die darauf hindeuten, gehäuft – zuletzt die verhinderten Anschläge von Düsseldorf. Anfang Juni wurden mehrere Syrer gefasst. Die mutmaßlichen IS-Anhänger waren offenbar über die Balkanroute nach Deutschland gereist und wollten in der Düsseldorfer Innenstadt wohl ein Blutbad anrichten.

Im April wurden in Bamberg zwei Männer verhaftet, ein 17-jähriger und ein 24-jähriger Syrer. Zwar wollten sie, anders als die Düsseldorfer Gruppe, offenbar keinen Anschlag in Deutschland verüben. Trotzdem ermittelt jetzt der Generalbundesanwalt. Die Männer stehen im Verdacht, einer islamistischen Vereinigung anzugehören.

672.561 Ermittlungsverfahren

Angesichts der Flüchtlingskrise sind deutschlandweit Polizisten und Staatsanwälte überfordert. Im vergangenen Jahr und im ersten Quartal dieses Jahres leiteten die Strafverfolger deutschlandweit eine Rekordzahl von mindestens 672.561 Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter Einreise beziehungsweise sonstiger Straftaten nach dem Ausländer- und Asylverfahrensgesetz ein.

Das hat eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter den Justizministerien und -behörden aller 16 Bundesländer ergeben. Die tatsächliche Zahl ist noch etwas höher, da die Justizministerien Brandenburg und Thüringen noch keine Zahlen für das erste Quartal zur Verfügung stellen konnten.

Lediglich 116 Anklagen in Hamburg

Überwiegend handelt es sich um Ermittlungsverfahren für den Papierkorb. So wurden von Anfang Januar 2015 bis Ende März 2016 mehr als die Hälfte dieser Fälle - 357.049 - allein wegen Geringfügigkeit wieder eingestellt. Daneben gibt es noch mehrere weitere Einstellungsgründe. Nur ein Bruchteil der Verfahren hat für die Betreffenden tatsächlich Folgen. Beispiel Hamburg: 2015 gab es in der Hansestadt zwar 7.060 einschlägige Verfahren, doch davon endeten lediglich 116 mit Anklage, Strafbefehl oder Geldauflage.

Am stärksten belastet sind die bayerischen Staatsanwaltschaften, weil die meisten Flüchtlinge über Bayern einreisen. Allein im Freistaat wurden von Januar 2015 bis Ende März 2016 knapp 269.000 entsprechende Verfahren angelegt, von denen fast 230.000 wegen Geringfügigkeit wieder eingestellt wurden.

Falsche Identitäten

Erst im April hat Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen eingeräumt, dass die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Terror Irrtümern unterliegen. So habe man es zunächst für unwahrscheinlich gehalten, dass der IS den Flüchtlingsstrom nutzen werde, um Anhänger nach Deutschland zu bringen. Ein großes Problem sei, dass etwa 70 Prozent der Flüchtlinge ohne gültige Pässe nach Deutschland kommen. Sie würden nur aufgrund ihrer eigenen Angaben registriert.

"Ich habe die Sorge, dass wir und unsere Partnerdienste in unseren Datenbanken zwar Informationen über gefährliche Personen gespeichert haben. Uns könnte jedoch entgehen, dass sie bei uns sind, weil sie mit falschen Identitäten einreisen."

Hans-Georg Maaßen in der Welt am Sonntag

Freie Wähler: Alles nur große Töne der Staatsregierung

Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann warnt immer wieder. Herrmann und der stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber haben sich zuletzt klar positioniert. Gemeinsam forderten sie kurz vor Start der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich eine zentrale, europäische Ausreisedatei. Denn nur "Vernetzung schaffe Sicherheit". Für Eva Gottstein, Landtagsabgeordnete der Freien Wähler, alles "nur große Töne" weil in Bayern nicht einmal die einreisenden Flüchtlinge vernünftig registriert werden würden.

Eine richtige Lösung jedenfalls scheint noch nicht in Sicht. Der Bayerische Verfassungsschutz hat zuletzt eine Broschüre herausgegeben. Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften können sich auf diese Weise über das Thema Islamismus umfassend informieren. Auch werden wohl Schulungen in Unterkünften angeboten. Es wird einiges unternommen, um sich einen Überblick zu verschaffen, von welchen Flüchtlingen eine Gefahr ausgeht. Ansonsten besteht immer das Risiko, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen, was aber niemand will.     

Das Tauziehen hat begonnen

Hinter den Kulissen findet innerhalb der Justizministerkonferenz ein Tauziehen statt. Niedersachsen und das Saarland haben im vergangenen Herbst vorgeschlagen, die unerlaubte Erst-Einreise und den einfachen unerlaubten Aufenthalt zu "entkriminalisieren". Die Begründung:

"Um den hiermit verbundenen hohen Arbeitsaufwand, dem wegen der regelmäßig erfolgenden Einstellungen der Verfahren wenig praktischer Nutzen gegenüber steht, zu vermeiden."

Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums

Doch das will Bayern auf keinen Fall mitmachen. "Das wäre das völlig falsche Signal", sagt Justizminister Winfried Bausback. Denn jeder Staat habe Grenzen, und jeder Staat müsse sein Territorium schützen können, argumentiert der CSU-Politiker. "Das gehört zu den Kernbereichen staatlicher Aufgaben." Das steht zumindest auf dem Papier in Bayern - auch wenn es kaum umgesetzt wird.


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HDM, Montag, 13.Juni 2016, 11:27 Uhr

20. neue Zeiten... - mal so gesehen

@16 "neue Zeiten...". Oh ja - die wird es geben: früher oder später. Und eine Idee von 'Sebastian' ist regelrecht grandios: "das Strafrecht den neuen Gegebenheiten anpassen". Das wäre ja großartig - dann landen endlich Leute wie Merkel, Gabriel, Maas, Göring-Eckart, Özdemir und zahlreiche andere dort, wo sie schon lange hingehören: im Knast!

Ben, Montag, 13.Juni 2016, 10:11 Uhr

19. Stoppt endlich Merkel bevor es zu spät ist!!

Wenn ich solch einen ärmliche Kommentar wie von Sebastian lesen muss ... dann kann man wirklich Angst haben um die Zukunft unserer Kinder! Merkel macht Deutschland kaputt!!
Wir werden, nein wir haben schon Verhältnisse wie einst in den USA. In NRW rieht sich ein Ghetto nach dem anderen.
Unser Sozialsystem wird explodieren. Wir haben jetzt schon an die 15 Millionen Deutsche die unter bzw. an der Armutsgrenze leben und da kommt so ein User mit solch einem .ranken Kommentar.
Armes Deutschland. Dieser Kommentar wurde von der BR-Redaktion entsprechend unseren
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Martin, Montag, 13.Juni 2016, 00:11 Uhr

18. Entkriminalisieren?

Genau das ist ein falsches Signal für weitergehende Illegale und Schlepper, wenn sie eh keine Strafe erwarten müssen, weil es der Behörde zu arbeitsaufwendig sei.
Im Gegenteil muss eher drakonisch gestraft werden, um Nachahmungstäter abzuschrecken. Alles andere funktioniert nicht. Und das sieht daran, dass sich im in den ersten 5 Monaten von 2016 über 100.000 Fällen illegal Einreisende ohne Pass reinschmuggeln und sich damit einen Gratisaufenthalt mit Gratis-Asylverfahren garantieren.
Damit verschafft die Justiz höchstpersönlich eine Verschärfung der Situation, anstatt sie abzustellen im HInblick auf Staats- und Bürgerschutz.
Das ganze jetzige Rumgejaule, von wegen die IS würde ja doch den Flüchtlingsstrom nutzen, kann nur noch als armselig bezeichnet werden. Es waren die Gutmenschen, die sich einfach nur einen Eimer über den Kopf gestülpt hatten, und nicht auf Warnungen hören wollten. Nein, man verhöhnte sogar "besorgte Bürger", und jetzt bekommen wir täglich "Terrorwarnungen".

Oliver S., Sonntag, 12.Juni 2016, 23:57 Uhr

17. Wie "überraschend" - Kriminelle tarnen sich als Flüchtlinge ...

"... Behörden schlagen Alarm - Kriminelle tarnen sich als Flüchtlinge..."

Bereits vor Monaten wurden diese Bedenken geäußert. Nur wurden solche "Bedenkenträger" seinerzeit mundtot gemacht. Warum eigentlich braucht Deutschland immer erst Vorfälle, um zu handeln? Und warum sind wir unfähig zu präventivem Denken und Handeln? Und noch immer diskutieren wir allen Ernstes darüber ob und welche Daten zwischen Sicherheitsbehörden ausgetauscht werden dürfen.

Aufwachen! Es gibt viele Bösewichte, die gegen unsere Vorstellungen von Freiheit sind und unsere Naivität ausnutzen werden - zum Nachteil für uns und der echten Flüchtlinge, die genau vor diesen Bösewichten bei uns eigentlich Schutz suchen. Aber viele Menschen halten Deutschland wohl noch immer für die "Insel der Glückseligen" und träumen weiter friedlich ihren Dornröschenschlaf. Kann allerdings leicht passieren, dass unsere Vorstellungen von "Freiheit" selbige eines Tages massiv gefährden ...

sebastian, Sonntag, 12.Juni 2016, 22:51 Uhr

16. neue zeiten...

Wohin soll man den Menschen ohne gültige Papiere schicken?
Außerdem solte man an den Familiennachzug denken.
Deutschland kann locker noch 3 bis 4 Mio. Flüchtling aufnehmen.
Ich finde Deutschland hat sich bereits positiver entwickelt in den letzten beiden Jahren.

Wir müssen da einfach umdenken. Warum nicht das Strafrecht den neuen Gegebenheiten anpassen?
Wenn der Islam zu Deutschland gehört, dann wird es zukünftig auch Vielehen und muslimische Feiertage geben müssen.

  • Antwort von Pat, Montag, 13.Juni, 10:34 Uhr

    "... geben müssen" Aja? Haben Sie das nun so beschlossen für alle?
    Ich denke, solange es Menschen in diesem Land gibt, die auch noch differenziert denken, wird es sicherlich nicht so kommen.
    Ich gebe Ihnen einen Denkanstoß: Wieviele Menschen auf der Erde leben in Armut? Wieviele Menschen davon denken Sie können wir aufnehmen? Nach Ihrer Logik, hätte es keine Grenze, denn alle würden sich eingeladen fühlen ohne Papiere nach Deutschland kommen zu können. Wie lange hält diese Situation unser Sozialsystem aus? Und es gibt eine Menge anderer Aspekte die einem zweifeln lassen. Ihre Argumentation bringt das in keinster Silbe mitein, im Gegenteil Sie ignorieren es und wollen sogar das Strafrecht anpassen (WTF?) Unter dem Deckmantel der Moral werden die Vorschläge und Forderungen immer skurriler, siehe Grüne Jugend am Wochenende.