Die Seniorenresidenz Schliersee besteht aus mehreren Gebäudekomplexen.
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Die Seniorenresidenz Schliersee besteht aus mehreren Gebäudekomplexen.

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Altenheim: Verdacht auf Körperverletzung bei 88 Bewohnern

In der Seniorenresidenz Schliersee sind Bewohner offenbar über Jahre vernachlässigt worden. Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt wegen Körperverletzungsdelikten bei 88 Bewohnern und prüft 17 Todesfälle. Senioren könnten verhungert sein.

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Extrem dünn, nur noch Haut und Knochen war die alte Frau. Ihren Anblick wird Andrea Würtz nie vergessen; und wie diese Frau zu ihr sagte, dass sie so friere. Die Hände waren mit Stuhlgang verdreckt, die Füße wundgelegen. Im vergangenen Jahr war Andrea Würtz für das Gesundheitsamt Miesbach oft in der Seniorenresidenz Schliersee. Sie sagt: "Ich hätte diese Frau am liebsten mit beiden Händen aus dem Heim getragen, so schlimm fand ich das."

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Durch den Corona-Ausbruch kamen Missstände ans Licht

Im April und Mai 2020 hat Andrea Würtz wegen eines Corona-Ausbruchs in der Seniorenresidenz Schliersee Tests organisiert und die Kranken von den Gesunden getrennt. Sie stieß auf fast verhungerte und verdurstete Bewohner, alkoholisiertes Personal, Schimmel und Schmutz. Andrea Würtz erinnert sich an viele unversorgte Wunden. Ein Mann ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben: "Er hatte offene Beine, da tropfte Eiter und Blut auf den Teppichboden." Angehörige von ehemaligen Bewohnern und Ex-Mitarbeiter schildern dem Bayerischen Rundfunk, Senioren seien im Heim völlig verwahrlost:

"Mein Vater war nicht gewickelt, der war von oben bis unten voll Dreck. / Ich habe noch nie so viele halb verhungerte Bewohner gesehen. / Meine Mutter hat sich dort wundgelegen. Die offene Stelle war groß, ganz eitrig und entzündet. Ich habe sie entdeckt. / Da haben die alten Leute um Hilfe geschrien und keiner ist gekommen. / Die letzten Worte meiner Mutter waren: Bitte hol mich hier raus. Danach hat sie nie wieder gesprochen." Angehörige von Bewohnern der Seniorenresidenz Schliersee

Ein Ex-Bewohner sagt, er habe um jede Hilfe "betteln" müssen. Stundenlang hätten Menschen in ihren eigenen Ausscheidungen sitzen müssen. Mehrere Behördenvertreter bewerteten die Situation im Mai 2020 als "Gefahr für Leib und Leben" – auch die Bundeswehr, die mit 45 Soldaten aushalf, weil das Heim die Bewohner während des Corona-Ausbruchs nicht mehr versorgen konnte.

17 Todesfälle werden geprüft

Seit Mai 2020 ermittelt die Staatsanwaltschaft München II gegen die ehemalige Heimleiterin der Seniorenresidenz Schliersee. Inzwischen wurden die Ermittlungen auf drei weitere Beschuldigte ausgeweitet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen verschiedene Körperverletzungsdelikte vor - bei 88 Bewohnern. Außerdem laufen nach Informationen des Bayerischen Rundfunks 17 Todesermittlungsverfahren. Die Ermittler überprüfen unter anderem, ob die Bewohner an Unterernährung gestorben sind. Zwei Verstorbene wurden exhumiert.

  • Zum Artikel: "17 Todesermittlungen: Tatort Altenpflegeheim"

Heimaufsicht ist vielen Beschwerden nicht nachgegangen

In den vergangenen Jahren haben sich zahlreiche Pflegekräfte und Angehörige bei der zuständigen Heimaufsicht im Landratsamt Miesbach gemeldet und über Missstände im Heim berichtet. Allerdings zeigen BR-Recherchen: Die "Fachstelle für Behinderten- und Pflegeeinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht" nahm nicht alle Beschwerden über die Seniorenresidenz Schliersee auf und ging ihnen zum Teil nicht nach. Das räumt der CSU-Landrat Olaf von Löwis, der seit 1. Mai 2020 im Amt ist, im BR-Interview ein: "Das haben wir so schnell und gut es ging abgestellt. Ja. Ich will das so stehen lassen. Habt ihr gut recherchiert."

Ende Februar durchsuchte die Staatsanwaltschaft nach BR-Informationen das Landratsamt Miesbach zum zweiten Mal, außerdem fanden Hausdurchsuchungen bei den vier Beschuldigten statt. Drei sind ehemalige oder aktuelle Mitarbeiter der Seniorenresidenz Schliersee, so die Staatsanwaltschaft. Die Kriminalpolizei hat bisher etwa 150 Zeugen befragt, unter anderem die ehemalige Mitarbeiterin des Gesundheitsamts Andrea Würtz. Sie sagt: "Ich verstehe nicht, wie so ein Heim in Deutschland überhaupt existieren darf."

Konnte oder wollte man das Heim nicht schließen?

Ende Mai 2020 war alles dafür vorbereitet, die Seniorenresidenz Schliersee wegen der massiven Pflege- und Hygienemängel zu schließen. Doch der zuständige Landrat Olaf von Löwis entschied sich lediglich für einen Aufnahmestopp. Bis heute ist das Heim offen.

Im BR-Interview sagt er, er bedaure das, habe aber kein juristisches Instrument, das Heim zu schließen. Der Verwaltungsrechtler Professor Bernd Hartmann von der Universität Osnabrück sieht das anders: Er erklärt im BR-Interview, hier sei eine Stufenfolge zu beachten: Beraten, Ermahnen, Anordnen und wenn die Mängel trotzdem nicht beseitigt würden, müsse man schließen.

"Man will nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen, allerdings ist auch klar, wenn es auf der einen Stufe nicht vorangeht, dann muss man auch die nächste Stufe beschreiten. Der Landrat hat auch eine Schutzpflicht gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern im Pflegeheim." Professor Bernd Hartmann, Verwaltungsrechtler, Universität Osnabrück

Laut dem bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz (PfleWoqG) hat die Heimaufsicht etwa ein Heim zu schließen, wenn der Träger länger vorhandene Mängel nicht fristgerecht beseitigt – also nicht erst bei Gefahr für Leib und Leben der Bewohner.

Ex-Manager klagt an

Betreiber der Seniorenresidenz Schliersee ist seit Mai 2019 das italienische Unternehmen Sereni Orizzonti. Nach BR-Informationen ermitteln Staatsanwaltschaften in Deutschland, Spanien und Italien zu Heimen dieses Betreibers. Der Ex-Manager Siro Bona war bis Sommer 2020 verantwortlich für die Seniorenresidenz Schliersee. Inzwischen hat er sich mit seinem ehemaligen Arbeitgeber überworfen. Er führt die Missstände unter anderem auf einen extremen Sparkurs zurück.

"Du betreust mit nicht qualifiziertem Personal, du bietest weniger Essen an, du wechselst die Bettwäsche seltener. So läuft das. Aber die Bewohner sind Personen, das sind menschliche Wesen. Die kannst du nicht behandeln wie Hühner im Stall." Siro Bona, Ex-Manager bei Sereni Orizzonti

Sereni Orizzonti bestreitet, an Qualität und Pflege zu sparen. Im BR-Interview betont der Pressesprecher des Unternehmens, Vittorio Pezzuto, die Heimaufsicht habe die Seniorenresidenz Schliersee schließlich nicht geschlossen: "Das ist ein Zeichen dafür, dass wir alle Standards einhalten." Doch eine Mängelliste der Heimaufsicht vom Januar 2021 füllt 18 Seiten, unter anderem steht darin, dass Bewohner falsche Medikamente erhalten und noch immer unterernährt sind.

"Ernährung stellt in jedem Heim in Deutschland ein Problem dar, aber nicht, weil das Heim das nicht im Griff hätte, sondern weil multimorbide alte Menschen mitunter an Krankheiten leiden, die ein Wieder-Aufpäppeln relativ schwierig machen. Ich meine das nicht abwertend." Robert Jekel, Heimleiter der Seniorenresidenz Schliersee

Reform der Heimaufsicht gefordert

Die ehemalige Mitarbeiterin des Gesundheitsamts und Pflegefachkraft Andrea Würtz findet: Die Heimaufsicht sollte komplett neu aufgestellt werden, um Zustände wie in der Seniorenresidenz Schliersee zu verhindern. Kontrollen sollten grundsätzlich ohne Anmeldung stattfinden. Es sollte keine festen Teams geben, damit die Beziehungen zwischen Heim und Heimaufsicht nicht zu eng werden. Professorin Martina Hasseler kritisiert außerdem, dass meistens nur die Dokumentation geprüft werde, nicht aber die Heimbewohner und ihre tatsächliche Versorgung. Die Pflegewissenschaftlerin von der Ostfalia Hochschule sagt dem BR: "Man kann aber jede Dokumentation fälschen."

Insider vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) bezeichnen die Seniorenresidenz Schliersee als "krassen Fall" – allerdings gebe es in Bayern mehrere Heime, in denen vergleichbare Pflegemängel herrschten. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen noch. Ob es zu einem Prozess kommen wird, ist offen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

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