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Schule verändert sich Flüchtlingskinder an Schulen

Lehrermangel, zu wenig Geld - die Schulen jammern. Nun kommen die ersten Flüchtlingskinder in die Klassen - und mit ihnen neue Herausforderungen. Die Folge: In den Schulen tut sich endlich was. Wie verändern Flüchtlingskinder unser Bildungssystem?

Stand: 10.10.2016

Flüchtlingskinder in einer Übergangsklasse in Bayern | Bild: BR

In der Übergangsklasse Ü5 der Icho-Mittelschule in München. Aya, Ismat, Rafal und die anderen Kinder lauschen den Fragen der Lehrerin Heidemarie Brückner. Sie melden sich, erzählen, woher sie kommen, wie viele Geschwister sie haben. Eifrig und ein bisschen zaghaft. Die meisten sind erst seit wenigen Wochen in Deutschland.
Unter den gut eine Million Menschen, die nach Deutschland geflüchtet und registriert sind, sind Schätzungen zufolge Hunderttausende Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter. Die sogenannten Übergangsklassen wurden eingeführt, damit diese Kinder zur Schule gehen können und sich im deutschen Unterricht zurechtfinden.

"Die größte Herausforderung in diesen Klassen ist, der großen Heterogenität gerecht zu werden."

Heidemarie Brückner, Lehrerin an der Mittelschule an der Ichostraße in München

Das ist gar nicht so einfach: Die Kinder der Ü5 an der Icho-Schule sind zwischen neun und zwölf Jahre alt. Außerdem sprechen die meisten kaum ein Wort Deutsch, wenn sie hier ankommen. Manche haben auch noch nie eine Schule besucht. Afghanistan, Syrien, Irak, Kroatien, Bulgarien: Was verändert sich beim Unterrichten, wenn jedes Kind einen anderen kulturellen Hintergrund mitbringt?

"Man stellt eigentlich viel mehr Fragen, als dass man Antworten gibt. Das ist ein Geben und Nehmen - ich krieg' von den Kindern viele Infos, die mir dann wieder Ideen zum Unterrichten geben."

Heidemarie Brückner

Jenseits von fixem Lehrplan und Schulbüchern

Jede Situation, die die Kinder in der Klasse erleben, liefert immer neue Wörter und Sätze. Heidemarie Brückner bastelt ihr Unterrichtsmaterial häufig selbst. Schulbücher für Übergangsklassen? Fehlanzeige. Die Klassenbücherei ist vollgestopft mit Büchern vom Flohmarkt - da ist für jedes Level eines dabei. Die Kinder arbeiten oft selbstständig oder in kleinen Gruppen.

Wie funktioniert die Integration in anderen Schulen?

Die Ü5 ist nur eine von rund 540 Übergangsklassen an Grund- und Mittelschulen in Bayern. Und es sollen noch mehr werden. Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Doch die Schulen klagen bereits über Lehrermangel und zu wenige Mittel. Sind sie für diese wichtige Aufgabe überhaupt gewappnet?

Die Journalisten Armin Himmelrath und Friederike Blaß haben an Schulen in ganz Deutschland recherchiert. Herausgekommen ist ein Buch mit dem plakativen Titel: "Die Flüchtlinge sind da!".

"Wir haben ein unglaubliches Engagement der Lehrkräfte beobachtet - die haben Ideen, entwickeln Lehrmaterial. Da steckt so viel Energie und Kreativität dahinter, weil es einfach anfangs gar nichts gab für Flüchtlingskinder. Schule verbessert sich dadurch, dass die Flüchtlingskinder da sind."

Armin Himmelrath, Bildungsjournalist und Autor

Die neue Situation zwingt Pädagogen dazu, neue Methoden zu entwickeln. Es gibt noch keine Konzepte von Behörden und Ministerien - aber eben auch noch wenige Vorgaben. Und man hat erkannt: ohne Geld geht es nicht. Inzwischen gibt es zusätzlich zu den Übergangsklassen staatliche Förderprogramme, Ganztagesangebote und private Spendenprojekte.

Umgang mit Trauma und das Leben im Hier und Jetzt

Es gibt nur einen Punkt, in dem viele Lehrkräfte an ihre Grenzen stoßen: Viele Kinder haben im Krieg Verfolgung, Tod und Gewalt erlebt. An den Schulen fehlen immer noch Schulpsychologen und Sozialarbeiter. Trotzdem hat Armin Himmelrath festgestellt:

"... dass Lehrer es mit relativ überschaubarem Aufwand schaffen, die größten Probleme in den Griff zu bekommen und eine Art und Weise des Umgangs damit zu finden, die es ihnen erlaubt, wieder zum Unterricht zurückzukehren."

Armin Himmelrath

Heidemarie Brückner verlässt sich da auf ihr Gefühl: die Kinder von alleine kommen lassen, ist ihre Devise. Sie sieht sich nicht als Traumatherapeutin. Wichtig sei vor allem, dass die Kinder sich in der Klasse sicher und angenommen fühlen.

Die Lehrerin beobachtet, dass die meisten Kinder die Vergangenheit und Flucht hinter sich lassen und sich auf ihr Leben hier konzentrieren wollen. So wie die 16-jährige Ezra aus Syrien, die in eine höhere Übergangsklasse geht. Ihr Traum: Reiseführerin werden. Sie sagt:

"Ohne Lernen bin ich gar nichts. Und ohne Schule auch."

Ezra, 16 Jahre, aus Syrien, Schülerin an der Icho-Mittelschule

Während es Ezra in die 10. Klasse schaffen will, büffeln die Schüler an der Fachoberschule Würzburg schon für die Oberstufe. Sie ist eine der ersten berufsbildenden Schulen, die besonders begabte Flüchtlinge auf das Abitur vorbereitet - in einer sogenannten Integrations-Vorklasse. Ein Modellversuch der bayerischen Staatsregierung, der zum Schuljahr 2016/17 an weiteren Schulen in Bayern gestartet ist.

Auch an der FOS Würzburg wird experimentiert - und die Schulkultur verändert sich:

"Im Austausch merkt man das einfach - wir Lehrer sprechen ganz viel darüber: Das hat nicht so gut funktioniert, wie könnte man es machen? Oder auch: Das hat gut funktioniert - vielleicht solltest du das auch mal ausprobieren."

Stefanie Volk, Fachoberschule Würzburg

Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Aber - schaffen wir das wirklich, wie Kanzlerin Merkel immer wieder betont?

"Ich bin fest davon überzeugt, weil ich tagtäglich mit diesen Kindern zu tun habe. Merkel hat ja nicht gesagt, wir schaffen das sofort. Zupacken und helfen! Nachbessern kann man dann immer noch."

Heidemarie Brückner

Autorin des Filmbeitrags: Agnes Popp


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