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Literarische Texte Mundart-Lyrik - eine besondere Literaturform

Von: Dr. Tabea Kretschmann

Stand: 16.11.2016

Hier beantworten wir folgende Fragen:

  • Warum schreiben Autoren in Mundart?
  • Welche Gattungen werden warum von Mundart-Autoren bevorzugt?
  • Welche Merkmale kennzeichnen besonders die Mundart-Lyrik?
  • Werden im Bereich der Mundart-Lyrik ausgewählte Themen bevorzugt behandelt?

Helmut Haberkamm

wurde 1961 im mittelfränkischen Aischgrund geboren. Er studierte in Erlangen und Wales die Fächer Deutsch und Englisch für Lehramt und schrieb eine Dissertation über englische Gegenwartslyrik. Noch während des Referendariats – bis heute ist Helmut Haberkamm als Gymnasiallehrer in Erlangen tätig – begann er mit dem Schreiben von Mundart-Gedichten. Seit dem Erscheinen seines ersten, preisgekrönten Gedichtbands "Frankn lichd nedd am Meer" 1992 hat er noch viele weitere Gedichte und Theaterstücke (u. a. "No Woman, No Cry – ka Weiber, ka Gschrei", das viele Jahre als Publikumsrenner am Staatstheater Nürnberg gespielt wurde) in Mundart publiziert, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. 2016 erschien sein erster Roman "Das Kaffeehaus im Aischgrund".

Im Film zu diesem Kapitel wurden bereits zwei Mundartdichter vorgestellt: Helmut Haberkamm aus Franken und H. C. Artmann aus Wien. Aber was ist eigentlich Dialekt- oder Mundartlyrik?

Dialekt- oder Mundartlyrik ist Lyrik, die ausschließlich in Dialekt bzw. Mundart (die beiden Begriffe werden synonym verwendet) geschrieben bzw. vorgetragen wird. Das heißt, dass Gedichte, die nur einzelne Verszeilen in Dialekt enthalten, in der Regel nicht zur Dialekt- oder Mundartlyrik gezählt werden.

Das Besondere an diesen Gedichten ist, dass der Dialekt eigentlich eine rein mündliche, regional gebundene Sprachvarietät ist. Manchmal kann sich der Gebrauch eines Dialekts schon von einem Dorf zum nächsten, das nur wenige Kilometer entfernt liegt, verändern, so dass zumindest Einheimische sehr genau hören, woher ein Dialektsprecher kommt.

Aufgrund der primären Mündlichkeit von Dialekt entfalten Mundartgedichte vor allem gesprochen ihre volle Wirkung. Jedoch werden Mundartgedichte meist auch verschriftlicht. Für die Verschriftlichung von Mundart gibt es keine Regeln – denn zumindest heutzutage ist unsere Schriftsprache als "Hochsprache" standardisiert. Daher muss jeder Mundartautor zunächst für sich selbst entscheiden, wie er den Klang seines Dialekts niederschreibt (das geschieht überwiegend durch eine Annäherung an eine möglichst phonetische Schreibweise, es wird also geschrieben, wie es klingt).

Die Gründe, warum sich Autoren dafür entscheiden, entweder manche Gedichte oder auch ausschließlich in Mundart zu schreiben, können ganz verschieden sein. Für die Dialektdichter ist die Mundart fast immer ihre "Muttersprache", also die Sprache, mit der sie aufgewachsen sind und zu der sie auch eine besondere emotionale Beziehung haben. So kann der Dialekt manchmal besser geeignet sein, Gedanken oder Gefühle auszudrücken, als dies in der Hochsprache möglich wäre.

Manche Autoren sind auch so sehr in ihrem Dialekt verwurzelt, dass ein Schreiben in Hochsprache sich für sie künstlich und fremd anfühlen würde. Zudem bietet der Dialekt auch eine ganz andere Ausdrucksweise als die Hochsprache. So gibt es viele Begriffe nur im Dialekt, aber auch der Satzbau, die Grammatik und Wortbildung können ganz anders sein als in der Standardsprache. All diese Aspekte spielten etwa auch bei Helmut Haberkamm eine zentrale Rolle dafür, dass er sich für das Schreiben in Mundart entschieden hat.

In Dialektgedichten können an der einen oder anderen Stelle auch Kraftausdrücke verwendet werden, ohne dass das zu unflätig klingen würde – sie sind eben Teil des mündlichen Sprachgebrauchs. Oftmals spielen Mundartautoren auch mit dem Sprachklang ihrer Heimatsprache, den sie bewusst einsetzen, um ihre kleinen Sprachkunstwerke zu schaffen. Oder sie experimentieren aus purer sprachspielerischer Lust mit den Sprachklängen, Ausdrucksweisen und Redewendungen des Dialekts.

Auch die in den Gedichten behandelten Themen (etwa ein enger Heimatbezug oder Alltagsthemen) können dazu führen, dass Mundart als Dichtungssprache gewählt wird, beziehungsweise wählen umgekehrt Mundartautoren oft diese Themen. Und natürlich ist auch die Wirkung eines Mundartgedichts anders als die von einem in Hochsprache: Es kann mitunter ein ganz anderes Publikum erreicht werden, das sonst eher nicht Lyrik hören oder lesen würde.

Insgesamt scheint es, als ob Theater (inklusive Kabarett) und Lyrik (inklusive Lieder) die bevorzugten literarischen Formen für Mundart wären: Im Theater und dem Gedicht als rezitierter beziehungsweise dem Lied als gesungener Lyrik kann die Mündlichkeit beibehalten werden, die den Dialekt ohnehin kennzeichnet. Und die Lyrik ist als Form – anders als der Roman – so klein und überschaubar, dass sie trotz der ungewöhnlichen Schriftsprache, gegebenenfalls mit etwas Anstrengung, auch gelesen werden kann.

Aufgrund der regionalen Gebundenheit von Dialekten ist der Wirkungskreis von Mundart meist eher regional beschränkt. Denn natürlich versteht man ein Dialektgedicht besser, wenn man selbst diesen Dialekt aktiv oder passiv beherrscht.

Dennoch sollte man den Einfallsreichtum der Dialektdichter und die Qualität von Mundartlyrik keinesfalls unterschätzen: Zu Unrecht haftete ihr manchmal der Ruf an, mit der Lyrik in Standardsprache nicht mithalten zu können. Es scheint eher so zu sein, dass viele Menschen oft noch gar nicht richtig mit Mundartliteratur in Berührung gekommen sind und nicht wissen, welche Sprach- und Literaturschätze sich da verbergen.

Im Übrigen haben auch überregional bekannte deutschsprachige Dichter wie Kurt Tucholsky, H. C. Artmann oder Ernst Jandl teils im Dialekt geschrieben. Kurt Tucholsky etwa beschrieb mit spitzer Berliner Zunge die Institution Ehe im Gedicht "Danach".

Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen --
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn --?

Denn jehn die beeden brav ins Bett.
Na ja ... diß is ja auch janz nett.
A manchmal möchte man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich immer penn ...!
Na, un denn --?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich beede jänzlich trenn ...
Na, un denn --?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn doof und hinten minorenn ...
Na, un denn --?

Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit --
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!

Der olle Mann denkt so zurück:
Wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

(Kurt Tucholsky: Danach, in: Die Weltbühne. Jahrgang 26, Nummer 14, S. 517)

Ein Thema, das in der Mundartlyrik immer wieder behandelt wird, ist Heimat. Das kann unter anderem durch einen Blick darauf geschehen, welche Bedeutung die Region, in der man lebt, für den Autor hat, wie in dem Gedicht "Frankn is a Draum" von Helmut Haberkamm, das er im Film zu diesem Kapitel rezitiert.

Frankn is a Draum

Frankn is a Draum, weider nix
Nedd mehr, obber aa nedd weenicher.

Des gibbds eigndlich goor nedd.
Des gibbds bloß in deim Kopf.
Des is in Wirglichkeid ganz annersch.

Des Frankn, wusd siggsd
Is bloß a blasser Schimmer, weider nix
Nedd mehr, obber aa nedd weenicher.

Mach wos draus.

(aus: Helmut Haberkamm: Uns schiggd der Himml, Cadolzburg, 2010, S. 25)

Immer wieder verschriftlichen Autoren auch Eindrücke aus dem Heimatort und der dortigen Natur oder nehmen Veränderungen in der gewohnten Umgebung wahr, wie etwa Josef Wittmann, der von München nach Tittmoning aufs Land gezogen ist, in "giasing" (mit "giasing" ist Giesing gemeint, ein Stadtteil Münchens).

giasing

s muichgschäfd hod zuagmacht
und is inscheniörbüro worn.

da mezga hod zuagmacht,
do gibds etz antiquitätn.

da gmiasloodn hod zuagmacht,
dea hoaßd demnäxd "grill-room".

da supermarkt hod aufgmacht,
do ham vorhea kinda gschbuid.

da nachbar is a araber,
sei wohnung kost scho hundad mark mehra.

i ziahg etz aufs land naus
und wart, bis me giasing eihoid.

(aus: Josef Wittmann: unser scheene koide hoamat, 1982; zitiert nach seiner Homepage)

Auch die mitunter unschöne Geschichte der Heimat wird immer wieder thematisiert. So beschreibt etwa Helmut Haberkamm in "Wohrzeing" (= Wahrzeichen; Gedicht siehe Übungsteil) den brutalen Umgang mit polnischen Zwangsarbeitern in seinem Heimatort im fränkischen Aischgrund. Gottlob Haag thematisierte im Gedicht "Dr Herrgott" die Judenverfolgung. Wie Helmut Haberkamm macht er damit im Dialekt der eigenen Heimat, dem Hohenlohischen, ein Thema explizit, das nach 1945 dort meist unaufgearbeitet verschwiegen wurde.

Dr Herrgott

E' uralder Mou is er,
mit en lange, schnäeweiße Boert,
der alles sicht und waaß,
hat mir früher
mei' Großmueder verzeiihlt.

I hob's ere glaabt,
lang glaabt,
bis zu denn Dooch,
wu i' en uralde Mou
mit'n lange, schnäiweiße Boert
uff' dr Schtroeße gseeche hob.
Zwische e' boer Soldate
Is' er drhiitorchlt.
Sie hewe uff' en neiigschlooche
und gschriee:
'Gäehzue und laaf,
du schtinketer Jud!'

Sie hewe'n eiigschperrt,
gfoltert und drangsaliert
und er hat niee gjammert
und kloocht,
aa nit, wu's 'en
doetgschlooche hewe.

E' uralter Mou
wäer dr Herrgott,
der alles sicht und waaß,
mit 'en lange,
schnäeweiße Boert,
hat mir mei' Großmueder
verzeiihlt.
Und i' hob's gseeche,
wie's 'en doetgschlooche hewe.

(aus: Helmut Haberkamm: Viel zu bieten, viel zu beklagen. Ausflüge in die fränkische Gegenwartsliteratur, in: Frankenland. Zeitschrift für fränkische Landeskunde und Kulturpflege, 3, Juni 2001, S. 249)

Kleine Alltagsbegegnungen, -erlebnisse, -reflexionen oder -beobachtungen können ebenfalls Gegenstand von Dialektlyrik sein und in der regionalen Alltagssprache beschrieben werden, wie (durchaus mit humoristischem bis gesellschaftskritischem Ton) in "A gsunds Lebn" von Friedrich Brandl.

A gsunds Lebn 

Mei Hausorzt
wollt ma
Beruhigungsmittel
und Betablocka
vaschreim.
Doch i
iß etz
mehr Schweinas,
dou is
des a
alles drin.

(aus: Eva Bauernfeind/Hubert Ettl/Kristina Pöschl (Hgs.): Vastehst me. Bairische Gedichte aus 40 Jahren, Viechtach, 2014, S. 43)

Manchmal wird die Sprache beziehungsweise der Sprachgebrauch selbst zum Gegenstand eines Gedichts und/oder die Mündlichkeit des dialektalen Sprachgebrauchs wird imitiert, so hier in einem Schülergedicht "Oaschkaff". Das Gedicht ist nicht nur in Mundart geschrieben, sondern auch dialogisch strukturiert und enthält – auch das ein Kennzeichen der "imitierten Mündlichkeit" in Dialektgedichten – eher "derbere" Ausdrücke.

Oaschkaff

Oaschkaff, nix los!
        Gemmer halt aweng auf Kiliani.
Was geits'n da?
        Mir könnde was ess.
Wassn da?
        Ä Bradwurschd?
Maachi nid.
        Grebbes?
Pfui Deifl!
        Schoggofrüchde?
Da kannsd mi damit jaach!
        En Grögger?
Da mussi schbei!
        Mir könnde was mach.
Wassn da?
        Hamsder glopf?
Kenni nid.
        Blumme schieß?
Is mer zu blöd.
        Audoskuuder fohr?
Is was für glenne Kinner.
       Luubing fohr?
Da mussi kotz!
        Saach hald, was du mach willsd.
Oaschkaff, nix los!
Da kannst nix mach!

(Monika Fritz-Scheuplein/Almut König/Norbert Richard Wolf (Hg.): äs gleiche. Schülergedichte zum UDI-Schülertag 2009 "Dialekt und Lyrik", Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 37)

Auch formal wird in Mundartlyrik experimentiert, wie das folgende Beispiel "konkreter Dialektpoesie" demonstriert. In dem Gedicht von Dieter Berdel wird eine Situation wie in einer Alltagskneipe ums Eck im Wienerischen Dialekt inszeniert.

Gedicht von Dieter Berdel | Bild: Dieter Berdel

Gedicht von Dieter Berdel, aus: Astrid Windersberger (Hg.): Lach-Dichter. Launige Lyrik aus Österreich, Salzburg, 2002. S. 21

Sehr häufig wird in der Mundartlyrik auch die lokale bis globale Politik aufgegriffen. Politisch-gesellschaftskritische Themen werden besonders gerne in musikalisch begleiteter Lyrik, dem Lied, verwendet. Berühmt für ihre satirisch-bissigen Texte wurden u. a. die Biermösl Blosn. Die Gruppe bestand 1976-2012, wurde von den drei Brüdern Hans, Christoph und Michael Well gegründet und trat oft gemeinsam mit dem Kabarettisten Gerhart Polt auf. Beispielsweise in dem Lied "Superbayern" oder in ihrer Version der "Bayernhymne" nehmen sie die Bayern selbst sowie die regionale Politik aufs Korn. 

1.

Mundartlyrik wird aufgrund mangelnder Kenntnis und ihres eher regionalen Wirkungskreises oft zu Unrecht unterschätzt.

2.

Zu denken, dass nur unbekannte Dichter Mundartlyrik schreiben oder geschrieben haben.

Merkmale Mundart

  • Dialekt- bzw. Mundartlyrik umfasst Gedichte ausschließlich in Dialekt bzw. Mundart.
  • Mundartlyrik wirkt bei mündlichem Vortrag am besten.
  • Mundartlyrik wird weitgehend in phonetischer Schreibweise geschrieben.

Gründe für die Verwendung von Mundart in Gedichten

  • Mundart als Muttersprache der Autoren, emotionale Bindung zum Dialekt, Authentizität des Ausdrucks
  • Lust am experimentellen Sprachspiel mit Dialekten
  • Themen mit regionalem oder Alltagsbezug
  • Hinwendung zu regionalem Publikum

Eva Bauernfeind/Hubert Ettl/Kristina Pöschl (Hgs.): Vastehst me. Bairische Gedichte aus 40 Jahren, Viechtach lichtung, 2014 (Anthologie mit Mundartlyrik aus Oberbayern, Niederbayern und der Oberpfalz)
Klaus Gasseleder (Hg.): Schprüch und Widerschprüch. Fränkische Mundartlyrik der 80er Jahre, Volkach, 1991
Astrid Windersberger (Hg.): Lach-Dichter. Launige Lyrik aus Österreich, Salzburg, 2002 (Anthologie humoristischer österreichischer Mundartlyrik)
Josef Berlinger: Das zeitgenössische deutsche Dialektgedicht, Frankfurt/M., 1983 (umfassende wissenschaftliche Studie zum Thema Mundartgedichte)
ISB Bayern: Dialekte in Bayern. Handreichung für den Unterricht (mit 2 DVDs), 2., erw. u. aktual. Aufl., 2015