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Dokumentarfilm Nirgendland

Über Jahrzehnte wurde Tina vom Vater missbraucht, dann ist die Tochter dran. Als der Fall endlich vor Gericht kommt, geht der Täter straffrei aus. Berührend teilt sich das Schicksal in Erzählungen der Mutter und aus den Gerichtsprotokollen mit.

Stand: 26.03.2015

Filmszene aus "Nirgendland" | Bild: BR/Filmallee

Tina (57) wurde schon früh eingetrichtert, dass nichts, was in der gutsituierten Familie passiert, nach außen getragen wird. So erleidet sie die Tortur, hält sie still, als ihr eigener Vater sie in ihrer Kindheit über Jahre hinweg sexuell missbraucht und verdrängt diesen Teil ihres Lebens, vergräbt das Trauma in ihrem Unterbewusstsein.

Tina vergräbt es so tief, dass sie die verzweifelten Signale ihrer Tochter Sabine nicht zu interpretieren weiß, als diese unter dem gleichen Täter ebenfalls eine jahrelange Tortur durchleidet. Nach langen Jahren des Schweigens fassen Tina und Sabine den Mut und die Kraft und beschließen gemeinsam den Teufelskreis zu durchbrechen: Sie klagen den Täter an. Doch die Hilfe kommt zu spät. Tina muss zusehen, wie in ihrer Tochter Sabine langsam der verbliebene Lebenswille dahinschwindet. Fünf Jahre nach der Gerichtsverhandlung spritzt sich Sabine eine Überdosis Insulin und stirbt.

Tina läuft gegen eine Wand des Schweigens.

Gemeinsam mit Tina begeben wir uns auf eine Reise in das Innere einer vollkommen traumatisierten Frau, bei der nichts so ist, wie es sein sollte. Eine Frau, die ihr halbes Leben lang in den Strukturen einer destruktiven Familie gefangen war und dies nie überwunden hat. Eine Mutter, die mit ansehen musste, wie ihre eigene Tochter in die Prostitution und Drogenszene abrutscht. Eine Frau, der nicht viel mehr geblieben ist, als der Drang niemals innezuhalten, immer aktiv zu sein, um sich nicht in Gedanken zu verlieren.

Auszeichnung

"Nirgendland" wurde beim Dok.fest München mit dem VIKTOR DOK.deutsch 2014 ausgezeichnet.

Filminfo

Originaltitel: Nirgendland (D, 2014)
Regie: Helen Simon
Länge: 77 Min.
FSK: ab 16 Jahre
Kinostart: 2. April 2015

Unsere Meinung

"Der Vater, der Opa, der Onkel: Sexueller Missbrauch findet überwiegend innerhalb der Familie statt. Während die Mauern des Schweigens bei sexuellen Übergriffen in Schulen, in der Kirche oder in anderen Institutionen immer häufiger durchbrochen werden, kommt der Missbrauch unter engsten Angehörigen oft erst viel später ans Licht. Zu spät.  So auch in der Familiengeschichte, die in 'Nirgendland' erzählt wird. Der Film erhielt bereits viel Aufmerksamkeit beim Dok.fest München und wurde dort zu Recht auch preisgekrönt. Denn es ist bemerkenswert, wie dicht Tina, die erst selbst missbraucht wurde und dann ihre ebenfalls missbrauchte Tochter zu Grabe tragen musste, die Filmemacherin Helen Simon an sich herangelassen hat.

Allein die Überwindung, über den Missbrauch durch den eigenen Vater zu reden, ist schon bewundernswert. Erschütternder aber sind beinahe noch die Szenen, in denen Tina über die Schuldgefühle gegenüber der eigenen Tochter spricht, die sie nicht vor dem Zugriff des Opas retten konnte. 'Nirgendland' ist ein ergreifendes, stilles Dokumentarfilm-Drama, das wütend macht. Und zugleich die Hoffnung weckt, das der Film Missbrauchsopfer ermutigt, ohne falsche Rücksichtnahme so früh wie möglich auf ihre Lage aufmerksam machen. Denn es sollte nicht peinlich sein für das Opfer, darüber zu reden. Schämen müssen sich nur die Menschen, die ihrer eigenen Familie so etwas antun."

(Heiko Rauber)


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